Sonntag, 6. Juni 2010

Distanz

Die Gedanken von gestern Vormittag: Nächster Schritt. Nichts losmachen, nichts inszenieren. Leben. Kein Spektakel. Nur das, was ist. Bewusstseinsstrom. Bewusstseinskomödie. Das Biest auf mich loslassen. Komödie auch vergessen. Tagebuch. Das reicht. Öffentliches Tagebuch. Heißt? - Ohne Veröffentlichen würde ich es nicht machen. Nie Tagebuch geführt, weil ich mir nicht wichtig genug dafür bin. Selbstverliebt schon. Sehr selbstverliebt. Doch am liebsten hab ich mich, wenn ich bescheiden bin und mich nicht so wichtig nehme. - Und veröffentlichen ist nicht sich wichtig nehmen? - Nein, das ist sich wichtig machen.

Ende der Gedanken 13 Uhr 15. Eintreffen des Gastes. Berlin-Besucherin. Alte Bekannte aus Heidelberg; wechselseitige Wertschätzung, haben uns immer loyal verhalten. Klar, komm doch vorbei. Verbringen wir den Nachmittag zusammen. Ich zeige Dir ein bisschen was. - Goltzstraße. Winterfeldmarkt. Café Einstein; Kaffeehaus-Garten; zweitfriedlichster Platz in der Stadt an einem sonnigen Tag. Fragen, Zuhören. Auch mal was sagen. Die vielen gemeinsamen Bekannten. Das hilft bei der Konversation. Irgendwann auf dem Weg zur Tauentzienstraße kriege ich keine kompletten Sätze mehr zustande. Die Bekannte ist auch erschöpft. Es ist alles erzählt. Gut war das mit der wiederbelebten Jugendliebe. Bernd. Sie damals 17, er 25. Jetzt sind sie wieder zusammen; sie 56, er 64.  Er verheiratet mit marokkanisch-französischem Ex-Model in Monte Carlo. Gemeinsamer Sohn Peter (13). Den Sohn liebt er. Doch das Ex-Model, das parasitär an ihm klebende, würde er am liebsten "ausknipsen". Ohne Hass. Einfach nur ausschalten aus seinem Leben. Er kann sie sich sowieso nicht mehr leisten; mehrere Insolvenzen, Geschäft weg, Vermögen weg. Gerade mal ein Haus in Südfrankreich ist ihm noch geblieben. –  Oh je. "Pass bloß auf, Ingrid, eines Tages wirst Du nicht nur ihn und seinen Sohn mit durchziehen müssen, sondern auch noch das Ex-Model in Monte Carlo alimentieren.“ – So drauf: „alimentieren“.

Wozu das nacherzählen? Überhaupt nacherzählen? - Nacherzählen kannst du woanders. Text hier soll Aktion sein. Siehe zum Beispiel „Vorhang“. Das Schreiben an Tess Vorbild für das Schreiben hier.

Zweiter Teil. Weiter Schreibregeln. Und F*. Als ich mit Ingrid aus dem Haus komme, steigt sie aus dem Auto aus. Guckt. Ich: Hallo, F*. – Sie: nichts. – Warum hat die jetzt nicht gegrüßt? – Der Typ sein, der sich den Rest des Tages damit befassen kann, warum die nicht Hallo gesagt hat. Nicht ununterbrochen. Nur immer wieder darauf zurückkommend. An einen Satz von Britta Steffen gedacht, den ich mal gelesen habe: "Wenn mich nur jemand schräg anguckt, bin ich sofort emotional angegriffen. Ich habe nicht wirklich Distanz zu Menschen." - Am Abend auf YouTube die 100 Meter Freistil von Britta Steffen bei den Olympischen Spielen in Peking noch mal angeschaut (ihre zweite Bahn!). Artikel mit dem Satz von ihr wieder gefunden. Text geplant mit Britta Steffen und das Schrägangegucktwerden, ihres. meines. - Und warum nicht gleich und gerade aus über mich? Wozu die Umschweife? Zu viel Feuilleton gelesen? Oder kein Vertrauen in mein eigenes Material beim Wichtigmachen? Geht das nicht, Sichwichtigmachen ohne Sichwichtignehmen?

F*. wohnt im sogenannten Gartenhaus. Vor drei Jahren hat sie sich mit dem Etagennachbarn zusammengetan. Ich habe das mitgekriegt und mich gefreut für die beiden. Nur jetzt guckt die F* mich auf einmal nicht mehr an. Als sie mir entgegen kommt mit dem neuen Freund, kneift sie die Augen zu, um nicht auf mich reagieren zu müssen. Geht vorbei, redet auf den Freund ein ("meine kleine Abgeordnete", schnappe ich auf), Blick starr geradeaus und Augen zugekniffen in dem Moment, als ich grüße. Der Freund grüßt zurück; er bemerkt, was sie macht; er weiß bestimmt, warum. Ich werde es nie erfahren. Denn bald darauf hat sie wieder geguckt und Hallo gesagt und die erste und eifrigste Mitleserin war sie bei meiner Liebeskorrespondenz mit der Contessa (siehe "Hack"). Darauf angesprochen wusste sie von nichts. Geschenkt. So sind sie eben. Wie sind sie? Was weiß ich. Was wollen sie? Das ist der Punkt. Warum fragen sie nicht, wenn sie etwas wissen wollen? Warum sagen sie es nicht, wenn ihnen was nicht passt? - Warum zeigst Du  mir Deine Feindseligkeit nicht offen, wenn Du eine hast? Und warum bist Du so neugierig, F*? Warum liest Du mein Zeug, wenn ich menschlich nicht Dein Fall bin? Und warum ist mir das nicht egal? Warum habe ich keine Distanz?