Dienstag, 31. August 2010

Hotte

So gut habe ich ihn nicht gekannt. Wenn ich ihn gestern Abend gesehen hätte, wenn er zum Beispiel vor dem Inder gesessen hätte in der Akazienstraße, wo ich ihn zum letzten Mal getroffen habe mit seiner Frau, und ich wäre wieder ins Gespräch gekommen mit den beiden wie damals, ich hätte nicht gewusst,  wie ich ihn anreden soll. Von der Lucia hätte ich den Namen gewusst, von ihm nicht. Aber als der Roland gestern zu mir sagte, der Hotte ist tot – da wusste ich sofort, wer das ist, und ich habe ihn vor mir gesehen, wie er da saß vor vierzehn Tagen: etwas spitz um die Nase und noch immer nicht über den Schreck hinweg, den ihm die Prostatakrebs-Diagnose eingejagt hatte. Doch die Operation war gut verlaufen. Es war ein gelungener Fall von Früherkennung. Was das trotzdem bedeutet für einen Mann, eine Prostatakrebs-Operation, jeder weiß es, da muss man nicht darüber reden, kommt auch drauf an, wie operiert wurde, kann man jedenfalls mit umgehen und mit leben, einer wie der Hotte allemal. Was der Sohn macht, habe ich dann noch gefragt. – Gut, sehr gut, alles gut, sagte Lucia. Und Hotte meinte, naja, es gäbe da schon noch ein paar Unebenheiten – oder so, weiß das Wort nicht mehr, das er gebrauchte -, aber die, sagte er, die würde er ihm auch noch austreiben. - So haben wir uns kennengelernt und so habe ich ihn in Erinnerung, den Hotte, von den Gesprächen über seinen Sohn. Vor Jahren im Romantica war das, als der Sohn gerade seine Ausbildung geschmissen hatte und in so eine Art Untergrund reingeraten war - eine Banden-Welt von Jugendlichen, die es gibt oder damals gab hier im Kiez, und die kriegt man gar nicht mit, wenn man als Erwachsener hier lebt, es sei denn, man hat einen Sohn, der da reinrutscht. Halb ungläubig, halb fasziniert habe ich mir das angehört, als Hotte erzählt hat, was da läuft in unserer Nachbarschaft – sozusagen vor unseren Augen, aber wir sehen es nicht. Doch am meisten war  ich beeindruckt davon, wie Hotte um seinen Sohn – keine Übertreibung – gekämpft hat. Dazu habe ich ihm immer wieder Mut zugesprochen in unseren Gesprächen. Das war das einzige, was ich dazu sagen konnte. Aber es war gar nicht nötig, ihn zu ermutigen, Der war wie ein Terrier als Vater. Der hat den Sohn nicht fallen lassen. Und als ich einige Zeit später, nachdem ich aufgehört hatte, ins Romantica zu gehen, mal Lucia am Barbarossaplatz traf, da kam sie gerade von ihrem Sohn, der in der Nähe inzwischen eine eigene kleine Wohnung hatte, und – ganz stolze Mutter - erzählte sie, dass der Sohn sich gefangen hat. - Am vergangenen Samstag, am Vormittag, hatte Hotte Halsschmerzen oder Atemnot oder beides, so genau wusste Roland es auch nicht. Nur, dass Hotte deswegen, begleitet von Lucia, ins Auguste-Victoria-Krankenhaus gefahren ist mit dem Auto - selbst gefahren, also so elend kann es ihm da noch nicht gegangen sein. Im Krankenhaus haben sie ihm eine Spritze gegeben, und als die Symptome nicht abklangen, noch eine. Die hat auch nicht geholfen. Es ging ihm immer schlechter und dann, so Roland, "war er auf einmal weg", bewusstlos. Sie haben ihn auf die Intensivstation gebracht und da ist er kurz darauf gestorben. – Woran? Warum? Roland weiß es nicht. Lucia weiß es auch nicht. Die Ärzte haben ihr nichts gesagt. Vielleicht wissen sie es selbst nicht. Roland will jetzt Lucia dazu bringen, dass sie eine Untersuchung der Todesursache veranlasst, um die Klinik  „gegebenenfalls“ zu verklagen. Weil da geht es ja nicht nur um diesen Fall, sondern um die "Fehler-Kultur" in den Krankenhäusern, die immer wieder beschworene, sagt Roland. Und dazu kann ich nur sagen: Roland, jetzt hör doch mal auf, mir so ein nerviges Zeug zu erzählen. Können wir nicht über den Hotte reden? – Roland hört auf damit und wir reden über Hotte und dann über Lucia und den Sohn - und dass der jetzt hoffentlich so für seine Mutter da ist, wie sein Vater für ihn da war, als es galt. - Hotte war ein kleiner stämmiger Mann mit einem drahtigen Haarschnitt und weichen, glatten Gesichtszügen. Ich habe immer angenommen, dass er jünger ist als ich. Von Roland habe ich jetzt erfahren, dass er vier Jahre älter war. Jahrgang 1948.