Samstag, 14. August 2010

Pudel

Wer redet denn heute noch über den Kohl? Aber über mich reden sie immer noch. Seit Jahrzehnten reden sie über mich. Sollen sie doch. Sollen sie immer weiter über mich reden. Ist mir egal. - So ein Mann ist das. So ein Gespräch ist das. Unser erstes längeres Gespräch. An der Ecke der Straße, in der ich wohne, und der kleinen Seitenstraße, in der er wohnt. Mit vier Jahren ist er mit den Eltern von Magdeburg hierher gezogen. Und alles hat er mitgekriegt damals. Wie sie die Juden abgeholt haben und die Homos; er sagt Homos. Von wegen nichts gewusst hinterher. Er hat es doch auch mitgekriegt als Kind. Er hat es doch auch gewusst. Nur die Judensterne hat er nicht gesehen, weil er damals noch zu klein war; so weit konnte er an den Erwachsenen nicht hochgucken, Seine Familie hatte einen kleinen Grundbesitz in der Uckermark, wo sie hin konnten während der Luftangriffe. Andere hatten es nicht so gut. Drei Tage lang haben die manchmal in den Kellern gehockt, und als sie raus kamen ist ihnen die Lunge geplatzt. – Was?! Das habe ich noch nie gehört. – Doch, doch. Deshalb mussten die Leute erst mal in Decken gewickelt werden, wenn sie nach Tagen aus den Kellern kamen. - Hm. Hat das was mit Unterdruck zu tun? Ich frage mal lieber nicht nach; er war ein Kind, sie waren in der Uckermark, wenn es hier gekracht  hat. – Das Haus in der Xxxxstraße, in dem er wohnt, ist unzerstört geblieben. Keinen einzigen Treffer hat das abgekriegt. - Wohnt er etwa immer noch in der Wohnung, in der er aufgewachsen ist? – Seit 68 Jahren wohnt er da. - Aber von den Eltern lebt niemand mehr, oder? – Zum Glück nicht. Im Haus haben sie eine 95jährige Frau wohnen. Die müsste man erschlagen. Aber niemand will es machen. Die war ihr Leben lang so bösartig, dass sie jetzt nicht sterben darf. – Ich erwähne, dass es in entlegenen Alpendörfern den Brauch gab und vielleicht immer noch gibt, die alten Leute, wenn sie allzu lästig werden, hinterrücks zu erschlagen, wenn gerade mal keiner guckt. – Da lacht er. Das gefällt ihm. Ich lache nicht, weil ich das schon zu oft angebracht habe. Ich würde jetzt gerne über Pudel reden. Seinen Mann sehe ich immer, wie er den Pudel ausführt, sage ich. - Mann? Mein Freund ist das, korrigiert er mich. Und der Pudel ist schon der siebte, den sie haben. Vier Mädchen hatten sie und drei Jungs. Der aktuelle ist ein Junge. – Wie alt? – Fünf. – Pudel sollen sehr schlau sein, sage ich. – Er bestätigt das und fügt lächelnd hinzu: Der Pudel beherrscht uns. - Thomas Mann hatte auch immer Pudel, sage ich. – Ach ja. – Und er hatte immer große Probleme mit ihnen, weil sie so eigenwillig waren. - Wie Katzen sind die. - Genau. Die Katzen unter den Hunden. Aber er hat sie geliebt. – Wer? – Thomas Mann. Er hat ja Tagebuch geführt. Und da steht an einem Tag drin: morgens irgendwie Weltliteratur geschrieben, Doktor Faustus oder so, und dann heißt es: Nachmittags mit dem Pudel gescherzt. Ich lache. Er nicht. Warum muss ich immer wieder diese Schote erzählen? Weil ich so gerne über Pudel rede? Warum eigentlich? Weil ich gerne einen hätte? Pudel sollen sehr humorvoll sein, versuche ich es noch mal. – Er schaut mich verständnislos an. - Ich gebe auf. Sein Freund sieht aus wie Alfred Biolek, sage ich. Lange Zeit habe ich sogar geglaubt, er ist es. – Das sagen alle. Manchmal kommen sogar Leute an und wollen ein Autogramm von ihm haben. Gerade neulich wieder im Zug. Und wenn er dann sagt, dass er es nicht ist, wollen sie es ihm nicht glauben und werden böse. - Liegt es an meinem Gesprächspartner? Heute habe ich es mit Anekdoten: Als Romy Scheider mal im Zug von Hamburg nach Berlin angesprochen wurde, da hat sie gesagt: Ich wäre sehr gerne Romy Schneider. Aber glauben Sie denn, Romy Schneider würde hier einfach so in diesem Zugabteil sitzen? Und das hat funktioniert. - Findet er gut! Das muss er seinem Freund sagen. Das ist eine gute Idee. Ach ja, Romy Schneider. Ihn kennt hier ja auch jeder. - Er gehört zum Straßenbild, bestätige ich. Und dann versuche ich es einfach noch mal, und füge hinzu: Wie sein Freund mit dem Pudel. – Aber er geht nicht darauf ein. Wie lange ich denn hier wohne, will er wissen. - Etwas mehr als 13 Jahre. – Das ist ja auch schon eine ganz schön lange Zeit. – Aber nichts gegen 68 Jahre. – Wo ich denn vorher gewohnt habe? – In der Nähe vom Botanischen Garten und davor sehr lange in Heidelberg. – Heidelberg ist schön, sagt er. – Na ja, sage ich. Und dann fehlt mir ein Stück in meinem Gedächtnisprotokoll. Keine Ahnung, wie er dann auf den Pfarrer gekommen ist und die Feindschaft, die er mit ihm hat, obwohl er und sein Freund lange Zeit im Kirchenchor mitgesungen haben; aber der Pfarrer hat eben was gegen Homosexuelle und das, wo doch die meisten Pfarrer selbst homosexuell sind und dann auch noch mit Kindern und Jugendlichen. Das verurteilt er und ich selbstverständlich auch. Wie er dann wiederum von den schwulen Pfarrern auf das Gerede der Nachbarn über ihn gekommen ist, auch daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber den Satz mit dem Helmut Kohl, den habe ich mir gemerkt. Der hat mir gefallen. Das ganze Gespräch hat mir gefallen. Wir werden es fortsetzen, versichern wir uns, als er mir im Weggehen die linke Hand reicht. Dann vielleicht auch mal, wenn sein Freund dabei ist und der Pudel.