Freitag, 10. September 2010

Beileid

Finsterer Blick der Witwe. Kein Gruß. Nicht mal ein stummer. Ist sie beleidigt? Vergrätzt? Grüße ich jetzt auch nicht? Zwei Schritte weiter, drehe ich mich um. Hey! Lucia! Gehe auf sie zu. Bleibe vor ihr stehen, mit steifem Kreuz wie der alte Rittmeister, bei dem ich als Student zur Untermiete gewohnt habe. Und wie er das gemacht hätte, sage ich zu ihr: Mein Beileid. Und für Dich auch, sage ich zu ihrem Sohn, der sie begleitet. Lucia nickt. Der Sohn nickt auch. Kein Gespräch. Weiter. In Eile. Denn ich muss noch zu Edeka und dann los nach Prenzlauer Berg, Treffen mit Michael in der Husemannstraße. Jetzt merke ich, dass ich mich mal wieder wie auf Schienen bewegt habe. Ich habe Lucia nicht die Hand gegeben, als ich ihr mein Beileid aussprach. Oder doch? Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall viel zu schnell war ich. - Hinterher: Ihr hat mein Text über Hotte nicht gefallen. Sie hat ihn gehasst, meinen Text! Ich denke nicht, das tut mir leid. Aber es bricht mir die Stimmung weg deswegen. Ihr Blick. Das Verwundete in ihrem Blick. Was könnte schlimm für sie gewesen sein an dem, was ich geschrieben habe? – Zwei Bemerkungen fallen mir ein: Über die Folgen der Prostata-Operation und was das für einen Mann bedeutet, wie jeder weiß. Über die schwierige Phase des Sohns. War es das? Beides? Was ist daran schlimm? – Es ist nicht so wie ein Nachruf sein soll. Doch so schreibe ich nun mal nicht. Dann hätte ich lieber gar nicht schreiben sollen über den Tod von Hotte? – Übrigens: Dass sie in der Klinik bei ihm noch einen Luftröhrenschnitt gemacht haben, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte, das habe ich vergessen. Anderes habe ich weggelassen mit Bedacht. Zum Beispiel den Namen des Sohnes. Weil ich den nicht näher kenne. Und aus Rücksichtnahme – weil er die Schwierigkeiten, in denen er war, inzwischen längst überwunden hat. Diskretion. Wurde die bemerkt? - Wahrscheinlich nicht. – Was ich mich immer wieder frage: Wäre es nicht besser, wenn ich nur über mich schreiben würde? Ist schließlich nicht der erste böse, „verwundete“ Blick, der mir begegnet. Und die Mails des „Er“ sind seit dem Text vom Montag auch auffallend knapp und kühl. – Ich werde mit Lucia reden, wenn ich sie wieder sehe. Ich werde sie darauf ansprechen und fragen, was es war, was sie verletzt oder vergrätzt hat. Am Ende ist es was ganz anderes gewesen, als ich vermute. Vielleicht hat sie mich gesehen und in dem Moment gedacht: Mein Mann ist tot und der Kerl da, der läuft immer noch lebendig rum und macht sich wichtig. – Vielleicht war es das. Das würde ich verstehen, wenn sie das gedacht hätte und deshalb so finster guckte, als sie mich sah. Dann war es vielleicht auch gar nicht finster, sondern einfach nur verbittert und traurig, wie sie geguckt hat, als sie mit ihrem Sohn an mir vorbei ging.