Samstag, 18. September 2010

Hotel

Pegasus, die Agentur, die mich vertritt, wenn es wieder mal was zu vertreten gibt, lädt ein zum verspäteten Sommerfest im Hotel Michelberger, Warschauerstraße 39. Hotel Michelberger? Was ist das denn? Wie kommen sie denn darauf? – Fast schon ein Grund hinzugehen, um das herauszufinden. Sonst spricht alles dagegen. Vor allem die Aussicht,  dass ich nach einer halben Stunde wieder jegliche Anbindung an die Gesellschaft verloren haben werde, so verhuscht und vertrotzt in einer Ecke stehe, dass ich mich selbst nicht wiedererkenne und qualvolle fünfzehn weitere Minuten damit verbringen werde, genug Zeit vergehen zu lassen, um mich von den Gastgebern verabschieden zu können, ohne dass der Eindruck entsteht, ich sei, kaum da, gleich wieder verschwunden. Und dann heute auch noch über dieses vorhergesehene und genau so eingetretene Erlebnis schreiben zu müssen, das nicht anders bezeichnet werden kann als eine Verhaltensstörung – das ist doch die Gelegenheit endlich mal herauszufinden, was da mit mir passiert bei den sozialen Ereignissen meiner Agentur. - U-Bahnhof Warschauerstraße. Schräg gegenüber, erst auf den zweiten Blick zu erkennen, das Hotel Michelberger. Auch drinnen der Eindruck des ganz anderen Hotels. Gitterartige Ständer mit Büchern und Zeitschriften. Flache Sitzpolster mit Hotelgästen drauf. Lounge-Atmosphäre in der Lobby. Weiter hinten eine kreisförmige Theke aus Holz, niemand dahinter. Davor zwei wartende Hotelgäste, ältere Frau, jüngere Frau. – Ist das die Rezeption? frage ich aus purer Neugier, weil ich will ja nichts. – Antwort der älteren Dame: Ja. – Schön, sage ich. Und da kommt auch schon die junge Hotelmitarbeiterin und besetzt sie lächelnd, die Rezeption. Wirklich schön, denke ich und gehe nach links in Richtung der zur Lobby offenen Hotelbar, wo ich gleich meine Verhaltensstörung haben werde. Begrüßung durch Fabian, Andeutung eines Gesprächs, dann muss er sich um andere Gäste kümmern. Die andern Gäste sind Autoren, Regisseure, Schauspieler. Viele miteinander bekannt; im Gespräch. Dazu die üblichen Einzelgänger wie ich. An ihnen kann ich erkennen, wie ich selbst wirke: Lieber nicht ansprechen. Ich lasse mir eine Cola geben und gehe in den Hof, wo ich Beate, die Buchhalterin der Agentur entdeckt habe. Am Telefon müssen wir beide aufpassen, dass wir uns nicht verquasseln, bei den sozialen Ereignissen der Agentur kommen wir über höfliche Konversation nicht hinaus. Im Hof gibt es das Essen (Grill). Jetzt habe ich alles gesehen. Nur den Chef noch nicht begrüßt. Steffen ist noch nicht da. Mit dem Auto stecken geblieben. Macht nichts, ich kann auch gehen, ohne ihn begrüßt zu haben. Will ich aber nicht. Weil heute gefällt es mir. Der Platz gefällt mir. Wie seid ihr denn auf dieses Hotel gekommen? frage ich Beate. – Durch Anja, sagt sie und deutet auf die junge Frau, die gerade mit einem vollen Teller vom Grill kommt und sich zu uns an den Stehtisch stellt. Anja ist Schauspielerin. Wird von Pegasus vertreten. Und sie hat das Hotel eingerichtet. – Wie das? – Freundes- und Bekanntenkreis von elf Leuten um den Namensgeber des Hotels. Alles Leute mit kreativen Berufen. Das Hotel ist für sie eine Möglichkeit, sich ihr Brot-und-Butter-Geld zu verdienen. Jeder hat was dazu beigetragen. Ein Grafiker zum Beispiel hat die (im Wortsinn) spacige Website gestaltet. Und Anja hat die Ausstattung gemacht, bis zu den Fensterrahmen. Ganz durchschaue ich das nicht, wie die Gruppe sich zusammensetzt und was Anja jetzt noch zu tun hat mit dem Hotel, nachdem es eingerichtet ist. Aber es scheint so, dass sie in dem Hotel lebt. Und das ist beneidenswert. Das ist wahrer Luxus, im Hotel leben. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre haben jahrzehntelang im Hotel gelebt als Paar; jeder in seinem eigenen Zimmer. Vladimir Nabokov hat in den letzten sechzehn Jahren seines Lebens in einem Hotel in Montreux gelebt. Und Anja lebt im Michelberger in einem der 120 Zimmer – oder hat sie von 120 Betten gesprochen, die das Hotel hat? – Ich kann nicht weiter fragen, da es nun regnet und Anja mit ihrem Teller nach drinnen flüchtet. – Ich rauche meine Zigarette zu Ende und höre von Beate, dass es das Hotel seit einem Jahr gibt, dass es ein Geheimtipp und im Moment  d e r  Platz ist für Events wie das soziale Ereignis von Pegasus. Deshalb hat Steffen es blind gebucht über Anja, die jetzt am Schauspielerinnentisch in der Bar sitzt und zu Ende isst, während die Bar sich allmählich füllt und nun auch Herr Schlöndorff eintrifft, in Begleitung einer Dame, die wahrscheinlich seine Gattin ist. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, wobei ein Herr Schlöndorff sich von der Agentur Pegasus vertreten lässt. Steffen fragen. Der ist mittlerweile auch da. Ich begrüße ihn. Doch mehr Zeit als für einen kurzen Small Talk hat er nicht. Das ist übrigens mein Problem bei Ereignissen wie diesem: ich kann keinen Small Talk. Das sage ich einem Kollegen, mit dem ich ins Gespräch komme, als er mich fragt, ob die Getränke frei sind. Daran. dass er erst etwas bestellt, nachdem er sich versichert hat, dass die Getränke frei sind,  erkenne ich ihn als Kollegen und wir haben gleich ein Gespräch, das kein Small Talk ist, den er im übrigen auch nicht beherrscht, wie er sagt. Nach dem Gespräch mit dem Kollegen fasse ich Zutrauen zu dem Ereignis und hole mir was zu essen. Mit meinem Teller setze ich mich an den Schauspielerinnentisch auf den freien Platz neben Anja. Ich würde sie gerne weiter ausfragen über ihr Hotel-Engagement. Doch am Tisch geht es erst um die Drei-Schwestern-Inszenierung von Castorf, dann um die Begeisterung für die Arbeit von René Pollesch und schließlich darum, dass Anja gerne Theater spielen würde. – Wie alt sie denn ist, fragt die gegenüber sitzende Kollegin. – 31 ist Anja. - Die gegenüber sitzende Kollegin, die vier Jahre am Deutschen Theater engagiert war, ist 35. – Und wie alt bin ich, fragt die gegenüber sitzende Kollegin. – 58. – Meine Altersangabe kommt mir vor wie ein Missklang. Doch das empfinde wahrscheinlich nur ich so. Anja wurde mit 13 auf der Straße entdeckt und spielt seither Fernsehrollen; sie hat viel für die Degeto gemacht und hat sich bislang noch nicht getraut bei einem Theater vorzusprechen, obwohl sie zum Beispiel einen Kontakt zur Volksbühne hat, über einen Freund, der allerdings nicht ihr Freund ist, wie sie betont. - Die gegenüber sitzende Kollegin ermutigt sie, es einfach mal zu versuchen. Ich sage, mit 31 wird es Zeit, dass sie es mal versucht. Und dann sage ich noch was über den Mut zum Scheitern und dass man Scheitern nicht immer gleich so persönlich nehmen und als Versagen ansehen soll. Mit Scheitern kenne ich mich aus. Anschließend beim Rauchen im Hof kommen wir ins Gespräch mit einem Kameramann und einem Regisseur. – Irgendwann geht es dann auch um`s Schreiben. Ich sage, dass ich jeden Tag schreibe. Dass das aber nicht heißt, dass ich erfolgreich bin. Und von da aus, ich weiß nicht mehr wie, kommen wir auf das Thema Morgenseiten. – Morgenseiten? Habe ich richtig gehört? Anja hat Morgenseiten gesagt? – Ja. Sie schreibt Morgenseiten. – Der Regisseur horcht auf. Er schreibt offenbar auch. Aber keine Morgenseiten. Wir erklären es ihm. Nennen ihm das Buch, woher wir das haben (Julia Cameron, The Artist´s Way) und worum es geht bei den Morgenseiten: Drei Seiten. Jeden Morgen. Vor allem anderen. Handschriftlich. Einfach drauflos schreiben. Was einem gerade durch den Kopf geht. Alles zulassen. Ergebnis völlig unwichtig. Es fließen lassen und so an die tieferen Schichten des Bewusstseins rankommen.  - Mensch, Anja, das ist ja ein Ding! Du bist der erste Mensch, den ich treffe, der auch Morgenseiten schreibt. – Sie sagt, dass sie viele Leute kennt, die Morgenseiten schreiben. - Ich fasse es nicht. Die würde ich am liebsten alle kennenlernen. - Der Regisseur ist beeindruckt, er notiert sich den Titel des Buches (dt. Der Weg des Künstlers) in sein Handy. Wir sagen ihm, dass das Buch nicht so wichtig ist, eher ein bisschen peinlich (Lebenshilfe für verhinderte Kreative), nur das mit den Morgenseiten, das ist es, das soll er mal machen. Das Gespräch geht noch eine Weile weiter, aber der Text hier ist jetzt schon viel zu lang. Mit Verhaltensstörung wäre er kürzer geworden. Doch dazu ist es dieses Mal nicht gekommen. Als ich mich später bei Steffen  für den Abend bedanke, umschreibe ich so höflich wie möglich, dass ich mich zum ersten Mal in dreizehn Jahren nicht gelangweilt habe bei einem sozialen Ereignis der Agentur. Steffen will mich Herrn Schlöndorff vorstellen, mit dem er gerade im Gespräch ist. Herr Schlöndorff winkt ab. Nicht nötig, sagt er, wir kennen uns schon. - Nicht, dass ich wüsste. Aber egal, wahrscheinlich will er nur, das wichtige Gespräch mit Steffen gleich fortsetzen. Beim Hinausgehen kommt mir in der Lobby eine Frau im Business-Dress entgegen, die einen Rollkoffer hinter sich herzieht. Sie fragt mich nach der Rezeption. Statt in die Richtung der Rezeption zu zeigen, fordere ich sie auf, mir zu folgen, und führe sie hin. - Danke. - Gerne. - Schöne Rezeption. Guter Platz. Guter Abend.