Freitag, 15. Oktober 2010

Albertine

Ich bitte weiter um Geduld. So schnell geht das nicht, wie ich es selbst auch gerne hätte. Mich leer machen. Am besten, indem ich jetzt alles raushaue, was noch zu schreiben ist über die Tess und den Professor, und dann steht es da und ich bin es los. Klingt viel zu einfach. Doch bei mir funktioniert das manchmal: Wenn ich jemandem etwas erzählt habe oder es geschrieben habe hier, dann lässt es mich in Ruhe. Was vom Professor noch zu erzählen ist: die Jahre zurück liegende Voyeur-Szene (Voyeur er, als er mich beim Sex mit mir selbst beobachtet hat und mich hinterher anstarrte wie einen Außerirdischen) und die Streit-Szene des Professors mit der Tess (Oh yeah, I had my fun!) vom September vergangenen Jahres, beides dokumentiere ich mit dem, was ich der Tess mal darüber geschrieben habe; dokumentieren reicht. Und die zahlreichen Umstände der geplatzten Verabredung, die dokumentiere ich auch: indem ich die Notizen, die ich mir danach gemacht habe (übrigens auch geschrieben an die Tess) in Das Alte Biest stelle. – Doch dann finde ich die Stellen mit dem Professor nicht in den Dateien, in denen ich mein Schreiben an die Tess abgespeichert habe. Nur kurze Erwähnungen. Und Drumrumschreiben (Sex mit sich selbst … allemal besser, als die verbreitete Heuchelei zugibt.). Dann überlege ich, ob ich es lassen soll, das über den Professor. Und das mit den zahlreichen Umständen? Auch lassen? – Das geht nicht, dann kann ich den Blog auch gleich aufgeben oder mich verbreiten über das, was sowieso schon in den Zeitungen steht. Trotzdem: Es widerstrebt mir. Ich würde am liebsten darüber hinweg gehen. Nicht, weil ich keine gute Figur dabei mache. Dazu bin ich nicht unterwegs, um gut auszusehen. Ich möchte es nicht, weil ich zu faul dazu bin. Weil es so kompliziert ist, so schwierig darzustellen. Und ich hasse es. Weil es so unklar ist. Weil ich nichts genau weiß. Weil es so sein kann oder auch ganz anders. Weil es nur Annahmen gibt und die kann ich noch so penibel darlegen, trotzdem werde ich nie herausfinden, was wirklich war. – À la recherche du temps perdu. Vorgestern habe ich mir den Band 2 von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aus der Bibliothek geholt.
À l´ombre des jeunes filles en fleurs. Im Schatten junger Mädchenblüte, hat Eva Rechel-Mertens übersetzt in ihrer deutschen Fassung, die ich gelesen habe, als ich Anfang zwanzig war. In der neu bearbeiteten Übersetzung von Luzius Keller wurde dieser Titel beibehalten. Letztes Jahr habe ich begonnen, die Recherche in der neuen Übersetzung nochmal zu lesen. Eigentlich würde ich den zweiten Band am liebsten überspringen. Beim ersten Lesen fand ich ihn so langweilig, dass ich die Proust-Lektüre beinahe ganz aufgegeben hätte. Wie gut, dass ich durchgehalten habe; aus Bildungsbeflissenheit. Denn im dritten Band (Guermantes)  ist es dann losgegangen wie noch bei keiner Lektüre zuvor, nicht mal bei Robinson Crusoe, den ich in meiner Kindheit so oft gelesen habe, dass das Buch schließlich nur noch aus losen Seiten bestand. Nach zwei Butterbroten und einer Zigarette lege ich mich auf die Couch, von der ich lange nicht wusste, dass man sie von der Dachwohnung gegenüber einsehen kann, und blättere im Band 2. Ich lese mich fest im Nachwort des Herausgebers und komme zu folgender Stelle. Dabei ist mir schon klar, dass das jetzt wie inszeniert erscheint. Wenn es jemand so vorkommt, ich kann es nicht ändern. Hier die Stelle: „ … Dennoch geht das Spiel von Vermutungen, Täuschungen und Enttäuschungen weiter. Albertine erscheint bald als ausschweifende Bacchantin, bald als störrisches Mädchen, bald als wohlerzogene junge Dame. Als sie einmal eine Nacht im Grand-Hotel verbringt und Marcel auf ihr Zimmer bittet, glaubt er, es handle sich um ein Stelldichein. Wie er sie aber küssen will, klingelt sie nach dem Personal. Die für Marcel vollkommene Unberechenbarkeit Albertines bildet die Keimzelle der Albertine-Teile der Recherche, das heißt von Die Gefangene und Die Entflohene, wo Proust die These, es sei unmöglich, jemanden, den man liebt, wirklich zu kennen, zu einer eigentlichen Allegorie des sich entziehenden Sinns ausbaut. Vorläufig aber, gleich nach dem Auftauchen der Schar von jungen Mädchen, stellt sich die Frage: „Wer ist Albertine?“ in weit bescheidenerer Form, nämlich: „Wer ist die kleine Simonet?“ Diesen Namen hat Marcel auf der Strandpromenade aufgeschnappt, und auf ihn fixiert sich sogleich seine Neugier. Im Hotel lässt er sich die neuesten Fremdenlisten bringen, wo tatsächlich der Name Simonet erscheint. Er überträgt den Namen auf das anziehendste der Mädchen, eine Radfahrerin mit schwarzer Polomütze. Später erfährt er von Elstir, der ihn auch mit ihr bekannt macht, sie heiße Albertine Simonet. Daß sich die Simonets im Gegensatz zu allen anderen Simonnets nur mit einem n schreiben, wird als eine Art von Snobismus erklärt. Wer jedoch genau hinsieht, erblickt im Namen der kleinen Simonet den Monets, des großen Impressionisten, und versteht ihn als Hinweis auf das in diesem Romanteil dominierende Thema der Malerei.“ - Letzteres nur, weil ich gerade so drin war im Abschreiben, und vielleicht auch als Hinweis darauf, dass mir so etwas wie das dominierende Thema der Malerei fehlt. Ich könnte jetzt die Literatur, Marcel Proust, zu einem dominierenden Thema machen. Zeit genug dazu werde ich haben, nachdem die Tess verschwunden ist aus meinem Leben (Die Entflohene heißt im Original Albertine disparue). Aber das ist auch riskant, denn es braucht extrem starke Abwehrkräfte, intensiv Proust zu lesen und dann nicht unwillkürlich in seinem eigenen Schreiben ihn zu imitieren. – Erster Satz von Im Schatten junger Mädchenblüte: Als davon die Rede war, daß Monsieur de Norpois ein erstes Mal bei uns dinieren sollte, und meine Mutter ihrem Bedauern darüber Ausdruck gegeben hatte, daß Professor Cottard auf Reisen sei und sie, was ihre Person betraf, den Verkehr mit Swann gänzlich abgebrochen hatte, denn der eine wie der andere hätten den ehemaligen Botschafter gewiß interessiert, hielt dem mein Vater entgegen, ein illustrer Gast, ein hervorragender Gelehrter wie Cottard sei bei einem Diner niemals fehl am Platz, Swann jedoch mit seiner Großtuerei und dieser gewissen Art, seine geringfügigsten Beziehungen vor aller Welt auszuposaunen, ein vulgärer Aufschneider, den der Marquis Norpois sicher, wie er sich gern ausdrückte, „geschwollen“ gefunden hätte.