Sonntag, 10. Oktober 2010

Aufdringlich

Wie kriege ich die Tess wieder heil raus aus dem Zug? Wie ist sie da überhaupt reingekommen? Und wer ist der Mörder? Alain Delon ist es bestimmt nicht, denn das war nur eine Assoziation? Und der Kerl aus dem Gide-Roman ist es auch nicht; das war nur die zweite Assoziation, mit der ich mir ausgemalt habe das Ende der Tess. Ausgemalt aus der Eingebung eines Moments heraus. Genau genommen zwei Momenten. - Rückweg vom Einkaufen über den Rummel auf der Akazienstraße. Kürbisfest. Straße voll mit Menschen, vorwiegend jüngeren Menschen, und jeder Zweite hat was zu essen auf der Hand. Was ist das nur für eine Lust am Angekokelten, Verbruzzelten, Heiß-fettigen, Klebrigen? Und wo sind eigentlich die alten Menschen? Sitzen die alle zu Hause vor ihren extrabreiten Plasmabildschirmen und sehen sich öffentlich-rechtliches Fernsehen an, für das bald alle Zwangsgebühren zahlen müssen, damit die alten Menschen sich das ansehen können? Kann natürlich auch sein, dass den alten Menschen das Angekokelte etc. nicht bekommt oder dass ihre Altersweisheit sie bewahrt vor der seltsamen Lust daran und sie sich lieber ihr Geld sparen zum Beispiel für eine Kreuzfahrt in die Arktis oder die Antarktis. Reiseziele, bei denen selbst ich einen träumerischen Blick bekomme. Wie geschehen, als ich die Post von Hapag-Lloyd geöffnet habe mit der aufwändigen Broschüre über Kreuzfahrten mit den eistauglichen Schiffen Hanseatic und Bremen. - Wie kommen die denn auf  mich,  habe ich mich gefragt. Und wenn sie schon meine Adresse haben, warum wissen die dann nicht, dass ich nur verreise, wenn ich an einem entfernten Ort etwas zu tun habe, und nicht einfach nur, um weg und unterwegs zu sein? Doch dann hat die Broschüre mir so gut gefallen, dass ich nur noch überlegt habe, ob ich lieber zu den Eisbären an den Nordpol will oder lieber an den Südpol zu den Pinguinen. Um es nicht unnötig spannend zu machen: Ich habe mich für den Südpol entschieden, was aber keine Entscheidung für die Pinguine und gegen die Eisbären ist. Die einen sind mir so lieb wie die anderen und bei Eisbären ist es sogar so, dass ich jedesmal komplizenhaft grinse, wenn ich einen sehe, weil ich dann daran denken muss, was sie mit dem aufdringlichen Reinhold Messner gemacht haben. Der wollte einmal mit einem anderen Touristen zusammen die Arktis durchwandern. Völlig grundlos. Nur, um hinterher davon erzählen und damit angeben zu können. Aus dem gleichen Motiv also, aus dem er sich zuvor schon mal ohne Sauerstoffgerät auf den Mount Everest gestellt hat. Doch während ihn im Himalaya niemand aufhalten konnte, weil es entweder keine Yetis gibt oder sie zu menschenscheu sind, haben sich in der Arktis mehrere Eisbären zusammengetan, sich an seine Fersen geheftet und dabei sind sie ihm so bedrohlich nahe gekommen, dass er sich gesagt hat, was will ich hier eigentlich, der Nordpol ist doch schon entdeckt (1909), und seine Wanderung abgebrochen hat. Wobei Reinhold Messner zugute zu halten ist: Hätte er nicht versucht, die Arktis zu durchwandern, hätten ihn die Eisbären nicht vertreiben können  und es würde diese wunderbare Geschichte nicht geben. – Das alles hätte ich gestern noch ausgemalt und wäre dann noch auf die schöne Broschüre eingegangen, die Preise der Kreuzfahrten und auch auf die Frage: Nimmt man sich eine Kabine mit Butler-Service und wäre es nicht herrlich, wenn Pinguine als Butler im Einsatz wären? Doch spätestens mit dieser Frage wäre es albern geworden und überhaupt, habe ich mir dann überlegt, ist nicht das ganze Thema albern? Schon was über mein Leben, denn ich habe fast eine halbe Stunde lang dagesessen und in der Broschüre rumgeblättert und -gelesen. Aber gibt es heute nichts Wichtigeres zu schreiben, habe ich mich gefragt. In dem Moment ist mir Katrin entgegen gekommen. Katrin, die ich kenne, seit sie 17 ist. Kennengelernt als die jüngere von zwei Töchtern einer Frau, mit der ich einmal kurz liiert war, nachdem der Sohn der Frau uns beide miteinander verkuppelt hatte. Inzwischen ist Katrin 26, studiert und arbeitet als Teilzeit-Nanny bei einer Familie in meiner Nachbarschaft. Sie war mit zwei Kindern auf dem Weg zum Spielplatz. Wir redeten daher nur kurz miteinander, um den Jungen und sein Geschwisterchen im Kinderwagen nicht zu langweilen. Im wesentlichen ging es in dem Gespräch darum, dass Katrin immer mehr Gesicht kriegt. Und als wir uns verabschiedeten, sagte ich: Du gefällst mir. Im Weitergehen habe ich dann gemerkt, was für eine aufdringliche Bemerkung das von mir war. Auf jeden Fall war es eine unangemessene Bemerkung. Für die Empfindung, die ich zum Ausdruck bringen wollte, wäre angemessen gewesen zum Beispiel die Formulierung: Du bist schön anzusehen - aber nicht das schon sehr intentionale Du gefällst mir. Deshalb habe ich mir vorgenommen, ihr das beim nächsten mal zu sagen, dass ich es so gemeint habe und nichts anderes im Sinn hatte dabei. Und dabei war ich mir sicher, dass sie das verstehen würde und darüber lachen, offen, unverkrampft wie sie ist und schlagfertig außerdem noch. Das habe ich mir vorgestellt, als ich meine Einkäufe ausgepackt habe in der Küche, und das Leben war so leicht und so unkompliziert und so selbstverständlich wie schon den ganzen Tag und die zwei Tage davor. Da musste ich auf einmal an die Tess denken und das war der Moment, in dem ich mich fragte, ob meine gute Stimmung etwas weiß, das ich noch nicht weiß, und ob das, was sie weiß, etwas zu tun haben könnte mit dem Traum von vorgestern oder mit dem Gedankenzug, der sich in Bewegung gesetzt hatte am Abend zuvor. Um es herauszufinden, habe ich Traumdeutung 2 geschrieben. Das hat dann dazu geführt, dass ich ein Mördergesicht gesehen habe und es mit der Angst zu tun kriegte. Vor mir. - Fortsetzung folgt.