Samstag, 9. Oktober 2010

Traumdeutung 2

Wo kommt auf einmal die gute Stimmung her? Weiß die Stimmung mehr als ich? – Ist das immer noch die Nachwirkung der Erleichterung, verspürt nach dem Aufwachen aus dem Traum von vorgestern? Ist da mehr passiert, als dass ein Zustand der Beklemmung aufgehört hat? Verweist der Traum auf die Zukunft? Deutet der Mord, um dessen Folgen es in dem Traum ging, auf einen anderen Mord hin? Einen geplanten Mord. Einen Mord, der gerade vorbereitet wird hinter den Kulissen meines Bewusstseins? Und ist der Gedankenzug zur Tat bereits abgefahren? Der Mörder sitzt auf einem Fensterplatz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung - sein bleiches Gesicht hinter der Scheibe. Nie war ein bleiches Mördergesicht schöner als das Gesicht des jungen Alain Delon in dem Film von Jean-Pierre Melville, der im Original Le Samourai heißt und in der deutschen Synchronfassung Der eiskalte Engel (1967). Ich lenke ab. Der ganze Text ist eine Ablenkung. Von? – Etwas, das ich mir nicht eingestehen will. Weil ich das jetzt überhaupt nicht brauchen kann. Alles soll so bleiben wie es ist; obwohl unerträglich, ich habe mich daran gewöhnt, ich habe mich darin eingerichtet und es ist besser als nichts. – Der Zug fährt. Der Mörder ist im Zug. Er ist unbewaffnet. Es wird nach der Tat keine Tatwaffe geben. Kein blutverkrusteter Dolch wird versteckt werden. Keine sexuelle Symbolik. Keine Defloration. Kein Sex. Denn Sex hat es in diesem Fall nie gegeben. Täter und Opfer kennen sich nicht einmal. Sie haben nie miteinander gesprochen. Und auch jetzt wird kein Wort zwischen ihnen gewechselt werden. Der Mörder wird eine Tür aufreißen und das Opfer aus dem durch die Nacht rasenden Zug stoßen. Nachtzug, der fährt von einem Ort in Spanien  (Barcelona oder Madrid, daran kann ich mich nicht mehr erinnern) nach Marseille. Der Nachtzug fährt in einem Roman von André Gide, Les Caves du Vatican (1914). Kein Drama um Schuld und Verfolgung. Keine Reue des Mörders. Nicht einmal ein richtiges Motiv gibt es. Alles, was der Mörder zur Begründung, nicht Rechtfertigung, seiner Tat vorbringt, ist der Satz: Das Schwein war unglücklich. So habe ich den Satz in Erinnerung. Vielleicht sagt er auch nur: Er war unglücklich. Jahrzehnte zurückliegende Lektüre. Lektürerest. Tagesrest. Texttraum. -  Gedankenzug ist ein Begriff, den Freud gelegentlich gebraucht. Der Gedankenzug hat sich gestern Abend in Bewegung gesetzt. Ausgelöst von einer zärtlichen Erinnerung. Wörter, die sie beschreiben. Ein Schlüsselwort ist kostbar. Das Wort hat Gedanken ausgelöst. Den Gedankenzug. Der Gedankenzug hat heute zur Vorstellung eines Textes geführt, den ich morgen schreiben wollte. Heute wollte ich schreiben einen Text mit dem Titel: Weltmeere. Über eine Broschüre von Hapag-Lloyd, die mir zugesandt wurde, um mich für Kreuzfahrten in die Arktis und die Antarktis zu interessieren. Vielleicht schreibe ich den Text ein andermal. Vielleicht schon morgen. Um Zeit zu gewinnen. Um den Zug zu stoppen, bevor es zu spät ist. Und bis dahin: Sei vorsichtig, Tess! Halte Dich von den Zugtüren fern!