Samstag, 6. November 2010

Finnisch

Bevor ich sie sehe, höre ich ihre Stimme. Was ist das für eine Sprache? Schwedisch? Norwegisch. Wenn, dann ein Dialekt aus einer ländlichen Gegend. Breit. Derb. Oder lallt sie? Ist sie betrunken, die Frau, die so laut spricht, zu laut für den Supermarkt. 7.30 Uhr, Freitagmorgen, Penny Markt. Große Frau. Schwarze Trainingshosen mit weißen Adidas-Streifen, dazu trägt sie halbhohe, hellbraune Wildlederstiefel. Hellblonde Haare, halblang, lockig. Bleiches Gcsicht. Übernächtigt oder gerade erst aufgestanden. - Der Mann, mit dem sie so laut redet, groß, kräftig, kurzhaarig, unauffällig. Nicht betrunken. Die beiden sind etwa gleich alt. 28? Vorstellung, dass sie aus der Nacht kommen, rasch noch etwas einkaufen gehen, damit sie nicht los müssen am Nachmittag, wenn sie ausgeschlafen haben. – An der Kasse die beiden vor mir. Einkauf: Verschiedene Sorten gelbe Limonade. Für den Kater später? Eine Flasche Sekt. Tüten mit Süßigkeiten? Kann ich nicht genau erkennen. Und dann sind da auch gleich die zwei kleinen Mädchen, die ich vorlasse, weil ich denke, die haben es eilig. Sie bedanken sich artig und die eine der beiden erklärt mir, dass sie in die Schule müssen. Das habe ich mir gedacht, deshalb habe ich sie vorgelassen. Ich sage nichts. Während des Anstehens an der Kasse greift die blonde Frau noch dahin und dorthin und legt eine weitere Tüte mit Süßigkeiten (?) zu ihrem Einkauf. Ich beobachte, wie sie sich bewegt. Nicht betrunken. Sie begegnet meinem Blick und lächelt mich an. Das Lächeln so breit wie die Stimme vorher zu laut. Doch betrunken? - Warum beschäftigt mich das? Weil ich gerade nichts anderes zu tun habe. Und wenn sie die ganze Nacht gefeiert haben und sie ihren Begleiter mitnimmt zu sich nach Hause und sie gleich zusammen ins Bett gehen werden und später zusammen aufwachen und die kalte Limonade trinken, um ihren Höllenbrand zu löschen, dann ist das etwas, das ich vielleicht auch gerne mal wieder erleben würde. – Da Aldi nebenan noch nicht geöffnet hat, kann ich nicht das täglich frische Vollkornbrot (Goldähren) kaufen und gehe deshalb zum ersten Mal in die Bäckerei neben dem Penny Markt, die vor einem dreiviertel Jahr eröffnet hat, und da stehen die blonde Frau von eben und ihr Begleiter sowie ein Handwerker. Die Verkäuferin steckt gerade eine große Tüte, vermutlich mit Brötchen, in eine Plastiktüte und fragt, ob das alles ist. Die blonde Frau sagt ja, bezahlt und wirkt dabei nicht wie betrunken. Sie geht mit ihrem Begleiter hinaus und ich schaue ihr hinterher  - auf ihre langen Beine in den schwarzen Adidas-Hosen und auf die halbhohen, hellbraunen Wildlederstiefel und ich denke, dass das gut aussieht an ihr, die Stiefel und die Hosen. Als ich mich wieder der Theke zuwende, begegne ich dem Blick der Verkäuferin, die mich beobachtet hat, während ich der blonden Frau hinterher schaute. Die Verkäuferin bedient den Handwerker. Belegtes Brötchen. Zwei Euro. Er hat es passend. Danke. Tschüss. Geschäftsmäßig. Die Verkäuferin nicht muffelig. Nicht freundlich. - Jetzt aber! Was darf es denn Schönes sein? - Wie angeknipst strahlt sie mich an. - Ein Baguette-Brötchen will ich. - Sie packt mir eines ein und behauptet, dass sie mir das schönste ausgesucht hat. - Die Frau ist um die 40, mittelgroß, schlank, ausgeschlafen, nicht hübsch, nicht hässlich. Dass sie mich so anstrahlt, kann nur damit zusammenhängen, dass sie gesehen hat, wie ich der blonden Frau hinterher geschaut habe. Ich wundere mich über den Zusammenhang, der besteht, aber ich verstehe nicht, worin er genau besteht, und ihre Koketterie strengt mich an. - 50 Cent, bitte. - Gut, dass ich sie passend habe. Ich habe sie auch schon in der Hand, weil ich auf das Preisschild geschaut habe. - Einen wunderschönen Tag. - Das auch noch. - Danke. Ebenso. Raus und: Uff! - Bei Sülo noch Zigaretten kaufen, Lotto spielen. 5 Euro gewonnen. Jackpot 20 Millionen. Zu Sülo: So früh macht Einkaufen keinen Spaß. Und dann über Tag immer wieder: Die Koketterie der Verkäuferin in der Bäckerei, nachdem sie meinen Blick der blonden Frau hinterher bemerkt hatte. Dieser Zusammenhang. Worin besteht er? Ich komme nicht drauf. Nicht auf das Einfachste. Ich denke nicht, dass es etwas mit mir persönlich zu tun hatte, trotzdem denke ich, dass es ein Frau-Mann-Verhalten war. Später fällt mir ein, dass das Finnisch gewesen ist, was die blonde Frau gesprochen hat. Definitiv Finnisch. Aber das Verhalten der Verkäuferin bleibt mir weiter unerklärlich. Ich experimentiere mit dem Kalauer, dass die Verkäuferin auch Finnin ist. Ich verstehe den Kalauer nicht mehr im Nachhinein. Heute erst komme ich darauf, dass die Koketterie ein Geschäftsgebaren gegenüber einem neuen Kunden war. Dass die Verkäuferin wahrscheinlich die Besitzerin der Bäckerei ist. Dass sie mich wahrgenommen hat als jemand, der zum ersten Mal in ihrn Laden gekommen ist und dass sie glaubte, mich einschätzen zu können, nachdem sie meinen Blick der blonden Frau hinterher bemerkt hatte. Dass das der Kampf um jeden Kunden war, den sie mit  mir geführt hat - und dass es deshalb so anstrengend war.