Sonntag, 7. November 2010

Glücksfall 1

Vor etwa zehn Jahren habe ich hier im Schöneberger Kiez mal eine junge Frau kennengelernt, von Beruf Sozialarbeiterin. Es ergab sich, dass ich Peter erwähnte, Peter L., wie er sich nennt. Worauf sie beeindruckt fragte: Was?! Du kennst den L.? – Hätte ich es gewollt, hätte ich mir Vorteile bei ihr verschaffen können, wenn ich sie mit Peter bekannt gemacht hätte. Bei dieser Gelegenheit ist mir klar geworden, was für einen Nimbus Peter in seinem Beruf hat und dass er als Sozialarbeiter eine Legende ist, zumindest es damals war. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich Peter erzählt habe von dem Gespräch mit seiner jungen Berufskollegin. Gut möglich, dass ich es nicht getan habe, weil er auch so schon begeistert genug von sich ist. – Peter ist jemand, der in seinem Leben ziemlich viel hingekriegt hat - unter Bedingungen, bei denen andere gar nicht erst angetreten wären. Zum Beispiel die Liebesgeschichte mit der Mutter seines Sohnes, die er kennenlernte in seinem Job als Sozialarbeiter. Sie ein Junkie, oder war sie da schon Ex-Junkie? Auf jeden Fall war Susanne kein Junkie mehr, als Peter mit ihr zusammen war und sie anfing, Ozeanographie zu studieren und ein ganz normales Leben zu führen. Was ihr aber nicht lange gelungen ist, da sich herausstellte, dass sie HIV-positiv war. Damals – Ende der 80er Jahre – war das ein Todesurteil. Der Nachname von Susanne steht heute noch an der Klingel von Peters Wohnung. Ich dachte immer, das sei eine Sentimentalität. Bis ich es mal ansprach und Peter mir sagte, dass der Name da steht, weil es der Nachname seines Sohnes ist. Bald nach der Geburt des gemeinsamen Kindes hatte sich Susanne nämlich  von Peter getrennt und war dann mit einem anderen Mann zusammen, bis sie an AIDS erkrankte und zum Sterben zu Peter zurückgekommen ist. Peter hat den Sohn alleine aufgezogen und wenn ich ihn sehe, bin ich jedes Mal wieder überrascht, was für ein Kerl das ist: sehr ernst, sehr geradlinig, sehr korrekt. Er lügt nicht, er raucht nicht, er nimmt keine Drogen, hat Peter mal über ihn gesagt. Es gibt einen Fernsehfilm über das Leben von Susanne, der Mitte der 90er Jahre in der ARD gelaufen ist; Freunde von ihr haben den Film gedreht, teilweise in der Wohnung Peters und seines Sohnes. Susanne ist auf dem nahe gelegenen Friedhof am Blücher-Platz beerdigt. Peter und sein Sohn besuchen regelmäßig ihr Grab und lassen dann Blumen zurück. Ich erwähne die Blumen, weil ich in der Wohnung von Peter noch nie eine Blume gesehen habe. Nach seiner Krebsoperation im Frühjahr 2009 ist Peter öfter alleine an dem Grab von Susanne gewesen. Bei einem dieser Grabbesuche wurde er auf die Beschaffenheit der Friedhofsmauer aufmerksam. Er entdeckte Strukturen, Muster auf der Oberfläche der Mauer. Die hat er fotografiert. Und danach, er war noch Rekonvaleszent und krankgeschrieben, ist er monatelang jeden Vormittag in Kreuzberg unterwegs gewesen und hat Detailaufnahmen von Wänden gemacht. Tausende. So ist seine Fotoarbeit Nackte Wände entstanden. – Peter hat ein paar mal Glück gehabt in seinem Leben. Einer der Glücksfälle ereignete sich, als er sich auf der Flucht vor der Bundeswehr nach Spanien abgesetzt hatte und auf Ibiza (oder war es Formentera?) monatelang in einer Höhle an einem einsamen Strand hauste. Malerisches Hippie-Leben im Naturzustand. Aber auch eine verzweifelte Lage. Er konnte nicht nach Deutschland zurück, weil ihm dort Strafverfolgung drohte. Ausbildung, Berufsaussichten perdu. Zukunft ungewiss. Irgendwann wäre auch auf den Balearen der Sommer zu Ende gegangen und auf die eine oder andere unerfreuliche Art wäre es aus gewesen mit malerisch. Doch noch schien die Sonne und eines Nachmittags stieg ein deutscher Urlauber zusammen mit seinem Sohn den steilen felsigen Abhang zu dem einsamen Strand hinab und Peter kam mit den beiden ins Gespräch. Der Junge war fasziniert von dem Höhlenbewohner und sein Vater beeindruckt von den Gedanken Peters über sein Leben und die Welt. An den folgenden Nachmittagen kamen die beiden wieder, um das Gespräch mit Peter fortzusetzen. Und als ihr Urlaub zu Ende war und sie sich verabschiedeten, versprach der Mann, sich der Sache Peters anzunehmen. Der Mann war der damalige Fraktionsvorsitzende der FDP im Deutschen Bundestag Wolfgang Mischnick und mit seinen Verbindungen sorgte er dafür, dass Peter nach Deutschland zurückkehren konnte, von der Bundeswehr und den Justizbehörden in Ruhe gelassen wurde und später strafrechtlich unvorbelastet ein Studium an der Fachhochschule für Sozialpädagogik beginnen konnte.