Samstag, 27. November 2010

Hiob

Gleich nach dem Aufwachen das Gespräch mit Peter von gestern Abend. Mal nachlesen, wie viele Söhne und Töchter und wie viel Stück Vieh Hiob hatte, um den Kalauer vorzubereiten: Gut, dass Peter nur einen Sohn hat und der inzwischen weit genug von ihm weg irgendwo am Kleistpark untergeschlüpft ist, weil er das Elend seines Vaters nicht mehr mit ansehen kann, und dass Peter keine soundsoviel Stück Vieh hat, sonst wären die nämlich jetzt alle hin. So hat er nur nach dem Zungenbodenkrebs, der Diabetes-Diagnose, dem Burnout-Syndrom, der depressiven Episode, der Anpassungsstörung und einem in den Alkoholismus entglittenen Weißweinmissbrauch nun auch noch einen doppelten Zehenbruch. Das ist nämlich die Ursache der Schmerzen in seinem rechten Fuß, die ihn seit letztem Wochenende noch unbeweglicher machen als er es ohnehin schon ist wegen seines Phlegmas.  – Buch Hiob: Das ist die Geschichte, in der der Satan, den man sonst im hebräischen Teil der Bibel eher selten sieht, mit Gott eine Wette abschließt. Eine Wette darauf, wie der bis dahin ganz gut im Leben weggekommene Hiob sich verhalten wird, wenn er alles verliert, was er hat, außer seinem Leben. Ob er dann auch noch so ein ergebener Diener Gottes sein wird oder ob er das nur so lange war, wie er vom Leben, also von Gott verwöhnt wurde. – Wie kam ich von Peter auf Hiob, obwohl Peter keine Schaf- und Kamel-Herde hat und wir alle wissen, dass es keinen Teufel gibt? – Weil Peter gestern Abend zu meiner Verwunderung darüber gesprochen hat, dass er sein nicht enden wollendes, in immer neuen Versionen auftretendes Unglück als Prüfung betrachtet – und weil ich fast den Eindruck hatte, dass es ihm gefällt, in diesem Ausnahmezustand zu sein: Der Fuß geschwollen und gerötet. Der Arzt hat von Blutvergiftung gesprochen, die droht. Deshalb ständiges Wechseln des Verbandes erforderlich, Einschmieren mit Betaisodona-Salbe. Das auf dem Boden hockend, weil Herunterbeugen geht nicht. Auch sonst geht Bewegen kaum. Er schafft es nicht mal bis zur Wohnungstür und schon gar nicht zum Briefkasten. Seit einer Woche nichts mehr eingekauft. Kein Klopapier mehr; er hilft sich mit gebrauchten Tempo-Taschentüchern. Die letzte Konserve, die er gestern noch hatte, war Rotkohl. Den hat er gegessen mit nichts dazu. Nicht mal ein Ei hat er mehr im Kühlschrank. Drei Zigaretten hatte er noch gestern Abend um 21.45 Uhr und fünf Vivil. Der Sohn zickt schon die ganze Woche rum, lässt ihn hängen. Die Freundin würde helfen, er will sie aber nicht in Anspruch nehmen. Was ich merkwürdig finde. Warum kommt sie nicht einfach mit zwei Tüten voll Lebensmitteln und einer Stange Zigaretten die Treppe hoch und sagt, hier Schatz? Aber wer weiß, was er ihr erzählt. Vielleicht findet er es unter seiner Würde, sich von ihr helfen zu lassen. Denn so erlebt er den Ausnahmezustand - wörtlich: Ach ja, interessant. So kann es also auch sein. Wie gehe ich jetzt damit um? Wie damals bei der Krebsoperation, sagt er, steht er neben sich und beobachtet sich und fragt sich: Bewältige ich das und bewahre ich dabei meine Würde? Oder bin ich nur noch am winseln und gebe mich auf? – Dazu erzählt er, dass er sich schon immer in seinem Leben damit beschäftigt hat, wie er in einem Katastrophenfall sich verhalten würde. Nicht als Anführer hat er sich da gesehen in diesen Phantasien. Aber als einen, der nicht durchdreht und in Panik gerät, sondern der seinen Mann steht. - Dass er sein augenblickliches Elend vergleicht mit einem solchen Szenario, verstehe ich. Denn auch mit herabstürzenden brennenden Balken und Scharfschützen im Haus gegenüber könnte es ihm nicht verratzter gehen als jetzt. Aber dass er solche Phantasien hatte und dass er die jetzt abruft? - Was für eine Aufführung von Narzissmus, habe ich gestern gedacht, als ich ihm zuhörte. Selbst so tief in der Scheiße posiert er noch vor dem Spiegel und für die Galerie. - Doch nachdem mir heute Früh der Hiob-Kalauer eingefallen ist, sehe ich es anders und mit Respekt. Peter macht nichts anderes als Hiob. Kein Aufhebens. Duldungsstarre. Nur, dass Peter es ohne Gott macht. Dass er ganz auf sich gestellt ist. Gestützt nur auf seinen Stolz. Und für den braucht er nun mal den Spiegel und das Publikum. Ohne Spiegel und die anderen funktioniert Stolz nicht. - Der Original-Hiob geht so aus, dass Hiob trotz zwischenzeitlichem Zweifeln und Hadern, sich in sein Schicksal fügt, sein Vertrauen in Gott bewahrt und dafür von Gott belohnt wird. Er hatte sieben Söhne und drei Töchter und seines Viehs waren siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Rinder und fünfhundert Eselinnen, und (..) viel Gesinde  - das alles hat er verloren und jetzt bekommt er es von Gott doppelt zurück. – Wie es mit Peter weiter-, wie es bei ihm ausgeht? - Fortsetzung folgt. Wenn möglich, dann in einer der nächsten Peter-Episoden mal was über seinen Sohn. Was ist mit dem eigentlich los? Warum zickt der so rum? Ich verstehe es nicht. Peter versteht es auch nicht. Heute allerdings wollte er kommen und für seinen Vater Einkäufe machen.
(Die erste Fassung des Textes, die feuilletonistische Bläh-Version, von der ich mir nur ungern getrennt habe wegen des Songs steht hier)