Freitag, 12. November 2010

Hype

Fernsehserie: Im Angesicht des Verbrechens. ARD. Heute Folge 7. Vorberichterstattung im April auf SPON, Hype-Journalismus: Dominik Graf hat mit seinem 500-Minuten-Epos, (…) einen Koloss von Fernsehproduktion erschaffen. Schwierig zu sagen, was das eigentlich genau ist: überhöhte Mafia-Saga oder authentischer Großstadtkrimi? The Godfather made in Berlin-Charlottenburg oder Migrationsstudie über russische Einwanderer? Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, und das macht "Im Angesicht des Verbrechens" so großartig, so einzigartig, so gefährlich. - Heute steht in der SZ, dass die Serie so schnell wie möglich beendet (versendet) werden soll, die letzten drei Episoden werden an einem Stück gezeigt, weil nur 2,11 Mio. Zuschauer sie im Schnitt ansehen. – Ich habe sieben von zehn Episoden bei der Erstausstrahlung auf Arte gesehen und ich habe mich nicht mal sehr gelangweilt; die Serie ist schnell erzählt, es gibt viel zu gucken an Schauplätzen und Personen. Aber ich habe nur so lange durchgehalten, weil ich immer dachte, jetzt geht es los, jetzt kommt das, was das Fachpublikum so begeistert hat, als die Produktion bei den Filmfestspielen 2009 gezeigt wurde, und was die Euphorie der Vorberichterstattung ausgelöst hat. Plus: Ich kenne von Graf und dem Drehbuchautor Rolf Basedow den Film Hotte. Das ist eine ganz einfache Geschichte über einen kleinen Berliner Luden, der ein großer Lude werden will. Aber mehr Fernsehen war nie. Wenn unter Kino in Deutschland nicht vor allem Filme verstanden würden, die bei den Hofer Filmtagen gezeigt werden können, dann wäre Hotte Kino. – Im zitierten SPON-Artikel steht, dass der Autor Rolf Basedow auf dem Barhocker sitzen geblieben ist, auf dem er für Hotte recherchiert hat, und einfach weiter gemacht hat. Nach dem kleinen Luden nun die große russische organisierte Kriminalität. Viel mehr als ein paar Schnurren mit Kampfhund und Seele so treu wie Russland weit haben sie ihm dazu allerdings nicht erzählt, seine Gesprächspartner an der Bar. Denn in sieben Episoden IAdV habe ich nichts erfahren über das russische organisierte Verbrechen, was ich nicht schon aus der Zeitung wusste. Weil sein Material wohl vorn und hinten nicht reichte, hat der Autor ihm einen Standard-Plot übergestülpt - einen Plot, wie man ihn für jeden Gangsterfilm verwenden kann, ob der nun in Miami spielt, Tokio, Herne oder Berlin: die Schwester des Polizisten ist mit einem Chef-Gangster verheiratet. Der Chef-Gangster hat den Bruder der beiden getötet, was Bruder und Schwester nicht wissen, doch der Bruder schließlich herausfindet und dann aber ... . Das ist ein Erzählmodul, das ist so einzigartig wie ein Reihenhaus. Vor allem aber, es ist ein Erzählmodul. Es erzählt nur von sich selbst und damit nicht Neues. – Außer einer seltsamen Unterwasser-Szene am Anfang auch nichts Neues im Subplot mit der Zwangsprostitution. Wie es eben ist: die beiden armen Mädchen nach Berlin gelockt mit falschen Versprechungen und in Berlin ans Edelbordell verkauft. Die Mädchen erst dumm. dann verzweifelt, weil die Zuhälter so brutal. Mehr haben sie dem Mann auf dem Barhocker dazu nicht erzählt. Wie sollten sie auch? Ist ja alles illegal. – Nach der 7. Episode von IAdV habe ich aufgegeben. Die Episode beginnt damit, dass ein Berliner Gangster, Deutscher, nach Kiew fährt mit der Eisenbahn. Es ist eine Lust mit anzusehen, was Dominik Graf, sein Kameramann und seine Cutterin aus der Abfahrt des Zuges aus Berlin machen. Was könnte das für eine wundervolle Serie sein, wenn sie nicht so angestrengt von etwas handeln würde, von dem Autor und Regisseur so wenig Ahnung haben wie wir Zuschauer? - Im Zugabteil sehen wir anschließend, wie sich der Berliner Gangster dermaßen besäuft, dass er - wegen alkoholbedingter Impotenz - Befriedigung bei seiner mitreisenden Geliebten nur finden kann, indem er sie zusammenschlägt, brutal zusammenschlägt versteht sich. Ich habe nie die Bekanntschaft von Berliner Großkriminellen gemacht. Aber ich erkenne ein Klischee, wenn ich eines sehe. Am Ende der Episode verlässt der Berliner Großkriminelle mit einem ehemaligen General der Roten Armee eine Sauna, in der die beiden mit mehreren jungen Frauen, vermutlich Prostituierten, zusammen waren. Sie treten ins Freie, auf eine Wiese an einem See. Während die Männer besprechen, wie es weiter gehen soll mit der organisierten Kriminalität in Berlin (irgendwas mit einer illegalen Zigarettenfabrik), schießen die nackten Mädchen auf Tontauben. Das ist lustig, das macht Spaß und die Mädchen erwecken dabei nicht den Eindruck von Zwangsprostituierten. Aber dann schießt ein Mädchen an einer Tontaube vorbei und trifft einen Fasan. Der fällt vom Himmel und liegt dann tot, aber wunderschön mit seiner Gefiederpracht am Ufer des Sees. Die Mädchen eilen herbei und stehen traurig und einige von ihnen weinend um den schönen toten Vogel herum wie Ballettschülerinnen, so dass man glaubt die Tutus rascheln zu hören, obwohl sie keine tragen, weil sie ja nackt sind. Eigentlich ist das purer Surrealismus. Es ist ohne jede Beziehung zu dem Gespräch der beiden Großkriminellen. Parallelmontage-Stoff. Tapete. Surrealistische Motiv-Tapete. Und hier haben wir noch das für Gespräche von Großkriminellen gern genommene Motiv: nackte ukrainische Nutten, die auf Tontauben schießen. - Der SZ-Artikel von heute Morgen. Klage über das Verhalten der ARD. In keiner Zeile die Frage, warum das Publikum die Serie nicht so begeistert aufnimmt wie die TV- und Filmkritik es getan hat. Stattdessen: eine sehr gute, besondere, eine selten kompromisslose Serie. - Glaubt der das wirklich?  Sieht der nichts anderes? Ist der zu oft bei den Hofer Filmtagen gewesen? - Mir fällt eine Begebenheit ein, die ich wiedergebe so wie sie mir eingefallen ist. Nur mal so als Hintergrund, weil sie mir eingefallen ist. Text-Tapete: Wir waren zum ersten Mal im Borchardt. 1994. Abend eines Hochsommertages. Wir bestellten vorneweg eine Flasche Rosé. Der Freund, den wir bis dahin für einen Kenner guten Essens und guter Weine gehalten hatten, nahm den Probierschluck. Er nickte dem Kellner zu. Der Kellner schenkte ihm und uns vier anderen ein. Wir stießen an, tranken und verzogen alle Vier das Gesicht. Der Wein war so was von korkig, dass wir es nicht fassen konnten, dass der Freund ihn abgenickt hatte. Wir ließen eine neue Flasche kommen. Wir sagten nichts zu dem Freund. Aber von da an war klar – ja was? –, dass er völlig taube Geschmacksnerven hatte? So muss es wohl sein. Und das als Gourmet. Armer Freund. - Aber ist das denn möglich, dass er nichts geschmeckt hat? Das gibt´s doch nicht. Später habe ich mir sein Nichtschmecken des korkigen Weins damit erklärt, dass er so beeindruckt war davon, im berühmten, damals hochgelobten Borchardt zu sein, dass er es sich nicht vorstellen konnte, dass etwas in diesem Restaurant nicht von erster Güte ist, auch nicht ein Wein, für dessen Korkigsein das Restaurant nichts kann. Und deshalb haben seine Geschmacksnerven zugemacht? - So muss es gewesen sein. Anders ist es nicht zu erklären.