Montag, 27. Dezember 2010

Leutselig

Als ich um 14.30 Uhr rausgehe, um in der Bibliothek den Brief an Claudia auszudrucken, ein Buch zurückzugeben und Zigaretten zu kaufen, muss ich nichts erleben, da ich schon weiß, was ich heute posten werde. Was über Bret Easton Ellis, Imperial Bedrooms. – Während ich die Parkanlage zwischen Beltzigerstraße und Bibliothek durchquere, sehe ich einen winzigen Hund im Schnee herumtollen und sage zu seinem Halter etwas über die Winzigkeit des Hundes im Schnee, woran ich mich nicht mehr genau erinnere. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil ich zugleich denke, dass leutselige ältere Männer wie ich bei diesem Schneewetter noch leutseliger werden, und das der wichtigere Satz ist. – Der Mann, obwohl noch gar nicht so alt, antwortet, der Hund sei ein Paradiesvogel. – Das finde ich so merkwürdig, dass mir dazu nichts anderes einfällt als: Das ist ja schön. – Er deutet mit einer Kinnbewegung auf einen großen hellbraunen Köter und sagt: Der gehört auch mir. – Ich: Na, das ist ja schon deutlich mehr Hund. Da haben Sie ja alles, was Sie brauchen. – Er: Den habe ich aus einem Tierheim. Den wollte niemand mehr haben. – Ich: Und jetzt ist er wieder fröhlich. Schönen Tag noch. – Der Mann sagt darauf nichts mehr und ich habe diese Szene auch nur erwähnt, um zu zeigen, in welchem Zustand ich heute Nachmittag war: leutselig, umgänglich. – An den PC-Plätzen in der Bibliothek bemerke ich eine dunkelhaarige junge Frau mit sehr feinen Gesichtszügen. Sie schaut zu mir her, als würde sie damit rechnen, von mir gleich belästigt zu werden. Der Platz ihr direkt gegenüber ist frei und sie könnte mir schon gefallen, aber mein Herz gehört nun mal der Tess und außerdem stelle ich fest, dass ich meinen USB Stick zu Hause habe liegen lassen und das mit dem Ausdrucken für heute vergessen kann. Nachdem ich drei Seiten aus Imperial Bedrooms kopiert habe, gebe ich das Buch zurück und mache mich auf den Rückweg. Vorbei beim Hamburger, um Zigaretten zu kaufen. Im Laden steht ein junger Mann und wartet. Der Hamburger verhandelt mit einer Frau über Konzertkarten. Ich habe den Eindruck, dass das länger dauern könnte, und verlasse den Laden wieder. Nach kurzem Überlegen entschließe ich mich, Geduld zu haben und gehe zurück in den Laden. Ich frage den Mann, wie lange er schon wartet. – Eine halbe Stunde, antwortet er und wir lachen. – Schneller als erwartet beenden der Hamburger und die Frau ihre Verhandlung. Ergebnislos. Der Hamburger nimmt eine Packung American Spirit (rote Packung) aus dem Regal und legt sie mir hin. Ich mache den Fehler, auf den Mann neben mir deutend zu sagen: Er ist vor mir dran. – Worauf der Hamburger den Fehler macht zu sagen: Er hat mehr Geduld als Sie. Das weiß ich. – Ich reiche dem Hamburger einen Geldschein und bin angefressen wegen seiner von mir als disqualifizierend empfundenen Bemerkung. Er gibt mir zu wenig Geld raus. Was sicher keine Absicht ist, sondern zeigt, dass er unkonzentriert, weil auch angefressen ist. Warum weiß ich nicht; vielleicht nur wegen der langen Vorgeschichte von Feindseligkeiten zwischen uns. Ich weise in unangemessen scharfem Ton darauf hin, dass er mir zu wenig Geld herausgegeben hat. Er ist einen Moment irritiert, erkennt dann aber sofort seinen Fehler und nimmt die fehlenden Scheine aus der Kasse. Dabei sagt er, um seinen Fehler zu entschuldigen, sinngemäß, dass das daher kommt, dass ich so seinen Stress mache, und fügt dann wörtlich hinzu: Deshalb wollte ich Sie auch gleich weg haben (heißt: mich als Ersten bedienen). – Ich bin auch so schon voller Zorn und entgegne dümmlich: Sie haben sich deshalb vertan, weil Sie so einen Unsinn geredet haben über mich (mit der Unterstellung, ich sei ungeduldig). – Der Mann sieht auf das Geld, das der Hamburger mir reicht und sagt: Jetzt ist es zu viel. – Es ist keineswegs zu viel und das kommentiere ich mit einer Bemerkung, die so giftig ist und bösartig, wenn auch nicht ganz unbegründet, dass ich sie mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte des Hamburgers hier nicht wiedergeben möchte. Während ich die Geldscheine und die Zigaretten wegstecke und dann mit meinen Handschuhen zu tun habe, warte ich darauf, dass der Hamburger mir sagt, dass er mich in seinem Laden nicht mehr sehen will. Das sagt er aber nicht. Er überprüft, ob auf dem Tippschein, den ihm der Mann gereicht hat, ein Gewinn ist, teilt ihm mit, dass sei leider nicht der Fall, und stellt sich darauf vor seinen Theaterkassen-Computer, während der Mann den Laden verlässt (er war also nur in den Laden gekommen in der vagen Hoffnung, im Lotto gewonnen zu haben). Ich verabschiede mich mit Tschüss und bin nun wieder ganz entspannt und leutselig und – was ist das Gegenteil von zornig? - in einem Ton, der das Gegenteil von zornig ist, sage ich lachend zum Hamburger: Jetzt haben wir es uns aber mal wieder gegeben. – Worauf er weiter auf seinen Bildschirm starrt und nichts sagt. Statt ebenfalls zu lachen oder seinerseits eine einlenkende Bemerkung zu machen und damit womöglich die Feindseligkeiten zwischen uns für immer zu beenden.