Freitag, 31. Dezember 2010

Lost

Beginn des Schreibens war um 16 Uhr. Die Uhrzeit am Anfang des Textes ist Rückblende. Die Du-Anrede an die Tess war zuerst nur Stilmittel. Ich wollte einen typischen Moment der Verwirrung im Szenario zwischen den beiden Dachwohnungen beschreiben, um dann einen dialektischen Besinnungsaufsatz (Ironie!) folgen zu lassen über die Frage, ob das, was ich Mitte der Woche angerichtet habe, ein Akt der Befreiung war, mit dessen Folgen ich nur noch nicht richtig umgehen kann, oder ob ich das Aufgeben der Tess wieder aufgeben und mich damit abfinden soll, dass ich lost in a romance und dann allerdings hoffnungslos verloren bin. Dass die Tess verhindern würde, dass es zu dem Besinnungsaufsatz kommt, war nicht vorherzusehen.

11.50 Uhr. Ich schalte meinen Router aus im hinteren Zimmer. Dabei bemerke ich Dich. Du stehst an Eurem Wohnzimmerfenster. Du trägst einen hellblauen Pullover. Du telefonierst und schaust herüber zu mir. Als Du siehst, dass ich Dich bemerkt habe, wendest Du Dich ab und verschwindest hinter dem Wandstück zwischen den beiden Fenstern Eures Wohnzimmers. Du hast Dich bewegt wie jemand, der beim Telefonieren in einem Zimmer herumgeht. Beiläufig. Es könnte auch sein, dass Dein Verhalten nichts mit meiner Gegenwart auf der anderen Seite zu tun hat. Es könnte auch sein, dass Du mich gar nicht wahrgenommen hast. Es könnte auch sein, dass Du gar nicht weißt, wer ich bin. Es könnte auch sein, dass Du gar nicht da warst. Es könnte sein, dass die Frau von Deiner Statur mit langen dunklen Haaren nicht Du warst, sondern die Frau des Professors, die zur Jahreswende aus London nach Berlin gekommen ist (der Professor hat nach meinen Informationen eine Ehefrau, die in London lebt und arbeitet und mit einen leichten süddeutschen Akzent spricht und sehr kommunikativ ist, wie ich weiß von einem Telefongespräch, das ich einmal mit ihr geführt habe, und der Professor hat eine Freundin, die mit ihm in der Dachwohnung gegenüber meiner Dachwohnung zusammenlebt und Amerikanerin und die Frau ist, die ich Tess nenne). Dass das gar nicht Du warst, die heute Mittag am Fenster stand, dafür spräche, dass jetzt eine Frauengestalt mit langen Haaren am Tisch in Eurem Wohnzimmer sitzt (im Halbdunkel) und das ist nach meinen Beobachtungen eine Angewohnheit der Frau des Professors und nicht von Dir, über Tag alleine an Eurem Wohnzimmertisch zu sitzen. Wenn es aber doch Du gewesen sein solltest, die heute Mittag telefonierend an Eurem Wohnzimmerfenster stand und Du nicht zufällig da gestanden hast, dann könntest Du mir gezeigt haben wollen, dass Du da bist, und da Du telefonierend da standst, könntest Du mir obendrein gezeigt haben, dass Du mit mir telefonieren willst und ich Dich anrufen soll. Dagegen spricht allerdings, dass Du Dich gleich abgewandt hast. Dagegen spricht auch, dass bislang auf jede Ankündigung von mir, auf Dich zu zu gehen, eine Demonstration des Professors folgte, mit der er mir seine Anwesenheit und meine Grenzen gezeigt hat ... .
Schwaches Dachlukenlicht auf der anderen Seite. Helleres Dachlukenlicht. Licht aus, Licht an (=Blinzeln). Licht aus.
Soll ich Dich anrufen?
Tess, soll ich Dich anrufen?
Warum hast Du eben geblinzelt mit dem Licht?
Soll ich Dich anrufen?
Offenbar nicht.
Soll ich also weiter den selbstquälerischen Text schreiben?
Wenn Du nicht bestätigst, dass ich Dich anrufen soll, rufe ich nicht an, weil das Letzte, was mir zu meinem gerade sehr großen Unglück noch fehlt, ist, in eine Situation zu geraten, in der ich den Professor am Telefon habe, und der mir dann wieder seine Frau präsentiert als die einzige Frau, die es in seinem Leben gibt.
Licht an. Kein Blinzeln.
Blinzle, dann rufe ich Dich an. Blinzle nicht, dann rufe ich Dich nicht an? – Was willst Du? Du blinzelst nicht? - Du hast vorhin nur geblinzelt, weil Du Dich freust, dass ich wieder mit Dir kommuniziere? – Du weißt, dass ich das oben bloggen will. – Hast Du geblinzelt, weil Du es gut findest, wenn ich es blogge? Oder verrate ich Dich damit? – Ich nehme diese Fragen wieder zurück. Das sind zu viele Fragen. Wenn Du jetzt blinzelst, weiß ich nicht, auf welche Frage Du geantwortet hast. Blinzle nur mit dem Licht, wenn Du willst, dass ich Dich anrufe.
Licht aus.
Du hast das Licht wieder ausgemacht. Du willst nicht, dass ich Dich anrufe.
Du kannst das Licht wieder anmachen. Ich habe es verstanden. Nicht anrufen. Hätte mich auch gewundert. Wäre zu einfach und zu gut gewesen.
Soll ich unseren Dialog aufnehmen in den Post? Oder soll der geheim bleiben? – Zeig mir helles Licht, wenn ich den Dialog aufnehmen soll? Zeig mir gedämpftes Licht, wenn ich es nicht tun soll. – Komm, mach mit! Sag ja oder nein. – Hell = ja. Gedämpft = nein.
Schwaches Licht.
Schwach.
Helleres Licht.
Aber es wird immer heller.
Noch helleres Licht.
Tess, das ist jetzt fast schon hell.
Helles Licht.
Tess, das ist hell!
Helles Licht.
Tess, das ist hell. Ich nehme den Dialog auf. – Dann hast Du also den Post von heute mitgeschrieben. Dann ist er auch schon fertig. Dann endet er entweder bei zu gut gewesen. Oder erst nach der Verständigung über hell = ja, gedämpft = nein. – Dann wolltest Du also, dass alles wieder gut wird – was bei uns so gut heißt. Und dann hast Du verhindert, dass ich zu meiner selbstquälerischen Zustandsbeschreibung komme: Nein, ich bereue es nicht, was ich Mitte der Woche geschrieben habe im Blog und an Dich, denn ich habe nun mal so empfunden, als ich es tat. ABER: Ich halte es kaum aus, was ich damit angerichtet habe.
Licht (Dachlukenlicht) inzwischen wieder aus.
Jetzt ist Licht im Contessa-Zimmer und eben war die Gestalt des Professors zu sehen, ist immer noch zu sehen: er macht sich da sozusagen zu schaffen – und zeigt mir in seiner bekannten Art seine Präsenz. – Dass er das tut zeigt allerdings auch … ich glaube es nicht, er hängt Wäsche auf einen Wäscheständer, der da noch nie gestanden hat am Fenster des Contessa-Zimmers – und er hat sich nach meinen Beobachtungen auch noch nie mit Wäsche befasst; das tut im Hause Professor üblicherweise die Tess. - Um den begonnenen Satz zu beenden: Dass der Professor mir gerade seine Präsenz gezeigt hat, das entlastet mich von der Vision, die ich eben beim Rauchen an der Balkontür hatte: dass die Tess, der Professor und seine Ehefrau in der Küche sitzen vor dem Laptop der Tess und sich schief darüber lachen, was ich gerade schreibe. So ist es also nicht.
Und wie sollen die das lesen können? – Ganz einfach: Bluesnarfing (siehe hier und hier). Das wird manchem Leser unwahrscheinlich vorkommen. Doch tatsächlich ist es das Einzige, was in dieser unwahrscheinlichen Geschichte als gesichertes Faktum gelten kann, dass die Tess mittels Bluesnarfing in meine beiden Rechner eingehackt ist. Die Tess macht damit aber nichts Ungesetzliches, weil sie das mit meinem Einverständnis tut.
Licht wieder an.
Habt Ihr Krach? - Wegen der Anwesenheit der Professor-Frau aus London? – Bist Du zufrieden mit dem Text?
Licht aus, Licht an.
Blinzeln. – Tess, das war eben mehr Kommunikation als wir je hatten. – Freut mich, wenn ich Dir helfen konnte. ­