Donnerstag, 30. Dezember 2010

Nummer 914

Finanzamt Schöneberg, Potsdamer Straße. Info-Zentrale. Blick zur Uhr: 13.50. Blick zur Wartenummern-Anzeige: 912. Die Frage ist nun, ob nach der Änderung der Öffnungszeiten donnerstags immer noch bis 18 Uhr offen ist oder nur bis 14 Uhr. Ich stelle die Frage der einzigen anwesenden Person im großen Wartesaal, einer alten, gebrechlich erscheinenden Dame, die auf einem Stuhl neben einem Tisch mehr kauert als sitzt. Sie winkt schon in der Mitte meines Fragesatzes ab und erklärt sich murmelnd für unansprechbar. Verwirrt? Betrunken? – Ein junges Paar betritt den Wartesaal, geht zielstrebig auf den Automaten zu, an dem man den Schein mit der Nummer zieht, und ich denke, hätte ich nicht lange gefragt, wäre ich vor denen dran. Ich ziehe die Nummer 914 und setze mich an einen Tisch, zwei Tische entfernt von der alten Dame. Die Nummer 913 wird aufgerufen. Das hätte ich sein könne wenn ich gleich zum Nummern-Automaten gegangen wäre. Und, wie ich durch die geöffnete Tür erkenne, als das Paar den Info-Raum betritt, wäre ich dann wieder zu dem Finanzbeamten gekommen, der mir bei der Einkommensteuerklärung 2008 geholfen hat, dabei sehr umgänglich war und damals meinte, wenn alles so gut vorbereitet sei, wie ich es getan habe, wäre das überhaupt kein Problem, dass er mir die Einkommensteuerklärung macht. Vielleicht geht es schnell bei dem Paar, so dass ich doch wieder zu ihm komme. Eine dunkelhaarige kleine Frau Mitte 20 betritt den Wartesaal. Die alte Dame steht auf und droht umzufallen, doch die junge Frau fängt sie auf. Die alte Dame sinkt zurück auf den Stuhl und ist tatsächlich betrunken – um 13.55 Uhr. Kennen sich die beiden oder war der schnelle stützende Griff der jungen Frau eine spontane Hilfeleistung? Jetzt reden sie miteinander; die junge Frau, die türkischer oder nordafrikanischer Herkunft ist, sie redet mit der alten Dame, als könne das gar nicht anders sein, als dass die alte Frau so besoffen ist, dass sie nur noch lallend artikulieren kann. Nachdem sie alles besprochen haben, hilft die junge Frau der alten Dame behutsam auf und geht mit ihr – sie stützend - hinaus. Offenbar ist sie die Betreuerin oder Pflegerin der alten Dame, die hier im Warmen gesessen hat, während die junge Frau für sie Besorgungen gemacht hat. – Ich überlege, ob das nicht auch eine Möglichkeit für mich wäre, einen alten Menschen zu betreuen, und denke gerade, dass man wahrscheinlich ohne entsprechende Ausbildung über das Arbeitsamt, das jetzt Jobagentur heißt, nicht rankommt an so eine Beschäftigung; dass das also nur über private Vermittlung laufen könnte, wenn ich so etwas machen wollte - als die Nummer 914 aufgerufen wird. Im Info-Raum sitzt das junge Paar noch immer bei dem Finanzbeamten, den ich schon kenne. – Zu wem gehe ich? frage ich mich im Raum umblickend - erst zur Finanzbeamtin, die gleich neben der Tür sitzt und dann zur Beamtin im hinteren Teil des Raumes. Zu mir, sagt die Beamtin im hinteren Teil des Raumes. Sie ist eine Frau mittleren Alters, die auf mich den Eindruck macht, dass das jetzt nicht so einfach wird. Nachdem es dann auch tatsächlich schon angefangen hat, schwierig zu werden, frage ich sie, ob sie schlecht gelaunt ist. Sie verneint das und empfindet die Frage keineswegs als Zumutung. Nun stellt sich heraus, dass meine Formulare nicht vollständig sind. Mir fehlt das Formular S für Einkommen aus selbständiger Arbeit. Das will ich holen von der Formular-Auslage im Wartesaal, aber da ist die Finanzbeamtin schon vor mir aufgestanden und geht es selbst holen. Und als sie mich gegen Ende unserer Besprechung fragt, was sie von Amts wegen einfach fragen muss: ob ich Geschäftsbeziehungen zu ausländischen Geldinstituten unterhalte, und ich das herzlich lachend verneine, da muss sie auch lachen. Keine Viertelstunde, nachdem ich bei ihr Platz genommen habe, sind Einkommensteuererklärung, Umsatzsteuerformular und Formular S von ihr ausgefüllt, von mir unterschrieben, von ihr zusammengetackert und können gleich da gelassen werden. Damit ist meine Einkommensteuerklärung 2009 fristgerecht abgegeben. Herzlichen Dank! - Ich muss weniger Umsatzsteuer an das Finanzamt entrichten, als ich ursprünglich gedacht hatte (das hat sich gestern bei der Vorbereitung der Zahlen schon ergeben) und ich könnte jetzt ein gutes Gefühl haben, als ich hinaustrete auf die Potsdamer Straße. Aber das ist nicht so. Auf dem Rückweg, in der Hauptstraße vor dem großen türkischen Supermarkt, rutsche ich aus und habe für einen Moment keinen Fuß mehr auf der Erde, kann mich aber gerade noch auf der Lehne eines Gartenstuhls aufstützen, der da steht wie für mich hingestellt. Ein Passant, der meine Flugnummer beobachtet hat, sagt: Das war gefährlich. – Ich sage: Aber es ist noch mal gut gegangen. – Deshalb könnte ich jetzt ein gutes Gefühl haben, während ich weitergehe, um meine Einkäufe zu machen. Aber das ist nicht so.