Dienstag, 11. Januar 2011

Hamburger

Ich kann nur vor mir warnen. Nach dem Tai Chi am frühen Nachmittag denke ich, dass ich heute am liebsten mal nicht über mich schreiben würde, dass es gut wäre, wenn ich so wen wie die Frau mit dem Selbstgespräch treffen, oder wenn sonst was passieren würde, was mich eigentlich nichts angeht. Danach in die Bibliothek, um einen Brief an die GEZ auszudrucken. Hinterher zur Post. Nachdem ich die lange Warteschlange dort gesehen habe, beschließe ich, mir bei Sinan und Sülo eine Briefmarke zu kaufen. Was allerdings ein Umweg wäre. Deshalb will ich mal fragen, ob der Hamburger auch Briefmarken hat, und Zigaretten kann ich dann auch gleich bei ihm kaufen. Wenn er nicht schwerer erkrankt ist, müsste er seinen Laden wie angekündigt ab heute wieder geöffnet haben. Doch dann sehe ich schon von weitem, dass der Rollladen am Schaufenster immer noch runtergelassen ist. Der Rollladen an der Tür allerdings nur halb runtergelassen. Mal nachsehen, was da los ist. Ob es vielleicht einen neuen angeklebten Zettel gibt mit einem Hinweis, wann er wieder öffnen wird. Vor dem Laden steht die Sonderschullehrerin, mit der ich so einen unkomplizierten Gesprächskontakt habe. – Was ist los? Ist er immer noch krank. – Nein, gestorben. – Was?! – Die sympathische Lehrerin weiß nichts Genaues; sie verweist mich an Michaela, die gerade aus dem Felsenkeller kommt und einkaufen gehen will (für alle, die nicht in Schöneberg leben: Michaela ist die Wirtin des Felsenkellers). – Ich sage, dass ich den Hamburger immer geärgert habe, weil er ein Feind von mir war, und füge kleinlaut hinzu: Hoffentlich habe ich damit nicht zu seinem Tod beigetragen. – Michaela erklärt vergnügt, dass sie ihn auch immer geärgert hat, obwohl sie sich gut mit ihm verstanden hat. Am Montag vor einer Woche war er noch bei ihr in der Kneipe und hat die Post abgeholt, die sie für ihn entgegengenommen hatte. Am Tag darauf hat er einen Herzinfarkt gehabt und war tot. – Und der Zettel, der seit letzten Montag am Rollladen klebte? Wegen Krankheit geschlossen. Was hatte er da?– Nichts. Das hat er nur hingeschrieben, damit es kein Gerede gibt, wenn der Laden mehrere Tage geschlossen ist, bis er ihn an die neuen Eigentümer übergeben hat. – Neue Eigentümer? – Die türkische Familie mit dem Kiosk gleich um die Ecke in der Hauptstraße, die wird den Laden übernehmen. – Da bin ich immer hingegangen, wenn es mir beim Hamburger zu lange gedauert hat. Sehr angenehme Leute. Jedes Mal, wenn ich da war, habe ich mich gefragt, warum ich nicht immer die paar Schritte weiter gehe, statt mir das mit dem Hamburger anzutun. - Jetzt hast du es näher, meint Michaela trocken. Sie erzählt dann noch, dass der Hamburger mehrere Bypässe hatte. Das weiß ich; von Gesprächen mit ihm aus der Zeit, als wir noch nicht verfeindet waren. Und seit zwei Jahren litt er außerdem noch an einer Borreliose infolge eines Zeckenbisses. Das wusste ich nicht. - Wegen all dem ist es ihm sowieso schon nicht gut gegangen. In den letzten Wochen ging es ihm noch schlechter. Und an dem Abend letzte Woche, als er die Post bei Michael abholte, war es ihm deutlich anzusehen, wie schlecht es ihm ging. – Zu Hause fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Michaela nach seinem Alter zu fragen. Rufe deswegen ihren Mann Günter (Wirt des Felsenkellers) an: Wie alt war euer verstorbener Nachbar? – 69, sagt Günter. – Ich bin überrascht. – Günter: Ja, er hat sich gut gehalten. – Ich: Äußerlich. – Seine Frau mochte ich immer sehr gerne. Mein Beileid!