Sonntag, 9. Januar 2011

Selbstgespräch

Später Samstagnachmittag. Da es Winter ist, wird es schon dunkel. Frau, Mitte oder Ende 30, norddeutscher Gesichtstyp, nicht hübsch, nicht hässlich, nicht einmal unscheinbar, angezogen wie zum Einkaufengehen, kommt aus dem Haus. Alleine. Sie überquert vor mir den Bürgersteig, tritt auf die Straße. Geht zu einem Auto. Bleibt da aber nicht stehen, guckt nur was nach und sagt: Bald ist mein Auto wieder frei. - Geht weiter und fügt hinzu: Dann kann ich wieder fahren. He-heee! - Das sagt sie wie ein Mädchen, das sich über etwas freut. Und nachdem sie He-heee! gesagt hat, macht sie noch drei Gaumenknacklaute wie ein Mädchen.
Unterdessen habe ich mich zweimal umgedreht, um nachzuschauen, ob entgegen meinem ersten Eindruck doch jemand bei ihr ist. Vielleicht ein kleines Kind, das ich hinter den parkenden Autos nicht sehen kann. Ihre Feststellung, dass ihr Auto wieder frei ist, erkläre ich mir so, dass sie es wegen des angehäuften gefrorenen Schnees am Straßenrand während der ganzen vergangenen Woche nicht ausparken konnte. Doch spätestens am Montag, wenn der Schnee restlos geschmolzen ist, wird sie wieder mit dem Auto fahren können. Zum Beispiel zur Arbeit. Vielleicht zu einer Schule.
Die Frau geht jetzt auf dem Bürgersteig gegenüber in die gleiche Richtung wie ich und es ist zweifellos niemand bei ihr. Ich erreiche kurz vor ihr die Ecke Vorbeck-/ Akazienstraße. Da das mein Weg ist, überquere ich die Straße. Ich habe es mir nicht vorgenommen, aber nun, da die Frau auf mich zukommt, spreche ich sie an:
Entschuldigen Sie, dass ich so aufdringlich bin. Darf ich Sie etwas fragen?
Ja.
Führen Sie Selbstgespräche?
Nein.
Aber eben haben Sie doch gesagt: Bald ist mein Auto frei. Dann kann ich wieder fahren.
Ach das.
Sie geht weiter. Die Frage scheint sie nicht irritiert zu haben und die Nachfrage auch nicht.  Bevor ich die Akazienstraße überquere, drehe ich mich noch mal um:
Leben Sie alleine? frage ich ihr hinterher rufend.
Ja, ruft sie zurück.
Manchmal führe ich auch Selbstgespräche. Doch sobald ich das bemerke, unterbreche ich mich, indem ich laut zu mir sage: Hör auf, mit Dir selbst zu reden! – Das will ich mir nicht durchgehen lassen. So einer will ich nicht sein, der Selbstgespräche führt. Dafür spreche ich mittlerweile bedenkenlos fremde Menschen auf der Straße an. Das ist in Ordnung. Und in diesem Fall war mir die Person auch gar nicht so fremd, da sie offenbar unter den gleichen Bedingungen lebt wie ich. Hinterher habe ich mir noch vorgestellt, wie es bei der Frau zu Hause zugehen mag. Was sie alles mit sich bespricht in ihrem mir nun bekannten Selbstgesprächsstil an einem Samstag, an dem sie erst gegen halb fünf das Haus verlässt. Aber das hat zu nichts geführt, mir das zu vorzustellen.