Mittwoch, 12. Januar 2011

Stark

Mit vollgepackten Tüten vom Einkaufen zurückkommend hat Peter gestern einen Schwächeanfall gehabt im Treppenhaus und ist gestürzt. Die Treppe runtergefallen. Leute aus dem Haus haben sofort den Rettungsdienst alarmiert, als sie den Peter neben seinen Tüten und dem verstreuten Inhalt auf der Treppe haben liegen sehen. Gleich zwei Notärzte sind darauf angerückt. Sie wollten Peter mitnehmen und in eine Klinik einweisen. Das hat er nicht zugelassen (verstehe ich). Darauf musste er unterschriftlich bestätigen, dass er die Hilfeleistung nicht angenommen hat. Die Unterschrift ist das Einzige, wozu er bereit war. Sonst hat er sich die beiden Notärzte beharrlich vom Leib gehalten. Nicht mal seine Rippen hat er sie abtasten lassen, damit sie feststellen konnten, ob er sie sich gebrochen hat bei dem Sturz (verstehe ich nicht). Inzwischen tun ihm die Rippen so weh, dass es schon gut wäre, wenn mal jemand, der etwas davon versteht, nachschauen würde, ob sie gebrochen oder nur geprellt sind. Zu alledem hat er seit gestern wieder Nasenbluten. Unabhängig von dem Sturz; es fing an, als wir am frühen Abend miteinander telefoniert haben, und tritt seither immer wieder auf. Bluten aus der Nase, wie er es im Herbst schon mal hatte. Auch das wäre gut, wenn mal jemand, der etwas davon versteht, abklären würde, woher das Nasenbluten kommt. Überhaupt wäre gut: Wenn jemand, der etwas davon versteht, sich den ganzen Peter mal angucken würde. – Du brauchst einen Hausarzt, der alles über dich weiß und der sich hauptverwantwortlich um dich kümmert. – Habe ich doch. – Ja, und? – Dem erzähle ich nicht alles. – Wie kann das sein? Stellt er dir keine Fragen? – Ich bagatellisiere eben auch. – Warum, muss ich ihn nicht fragen. Ich weiß es. Und wir müssen auch nicht darüber reden. Denn er weiß es auch: Weil er immer stark sein will. Weil er das älteste von vier Kindern gewesen ist - die beiden jüngsten von einem anderen Vater -, und weil das ein harter Konkurrenzkampf war um die Liebe und die Anerkennung, und er dabei großen Erfolg hatte in der Rolle dessen, der sich nichts anmerken lässt, der sich zusammenreißen kann, der stark ist. drollig, witzig, klug und immer obenauf. Dann hat er jahrzehntelang in seinem Beruf anderen geholfen und war weiter obenauf. Und jetzt ist er nicht mehr obenauf und hat es einfach nicht in seinem Repertoire, die Hand auszustrecken und sich aufhelfen zu lasen. – Weinen hast du doch auch gelernt auf deine alten Tage, habe ich vorhin zu ihm gesagt. Da kannst du doch jetzt auch noch lernen, dir helfen zu lassen. Sonst hat das Weinen nämlich keinen Sinn. Weinen ist dazu da, um Hilfe herbeizurufen. – Ich habe ja Leute, die mir helfen. – Deine Freundinnen und mich. Wir hören dir zu, wir geben dir Ratschläge, wir verstehen dich, du verstehst uns, aber es passiert nichts. Du steckst fest in einem ständigen, immer nur in sich selbst kreisenden Gerede (Vorstellung von etwas, das in sich selbst kreist, ist meine Vorstellung der Woche. Siehe Montag). – Ich habe Peter angeboten ihn zu begleiten, wenn er morgen erst in die Charité geht zur MRT (12 Uhr) und zum anschließenden Diagnose-Termin im Virchow-Klinikum (15 Uhr). Habe mir gedacht, dass ihm das hilft während des bangen Wartens, bis er erfährt, ob die beiden Knubbel an seinem Hals harmlos sind oder nicht. Dass ihn das entspannt, wenn er den vertrauten Dialog mit mir hat, in dem er alles aussprechen kann, was ihm durch den Kopf geht, und dabei seine Witze machen, und jemand mit ihm lacht. Anstatt nach außen den Unerschütterlichen geben zu müssen und in ihm drinnen rast die Panik. - Vorhin hat er mir gesagt, dass er lieber alleine gehen will. Verstehe ich. Bei dem, was er morgen durchzustehen hat, wäre ich auch lieber alleine. Warum eigentlich? - Hoffentlich geht er auch hin!