Donnerstag, 3. Februar 2011

50 Cent

Zwei junge blonde Frauen. Große dünne Frauen. Die eine ist Mitte 20 und sagt zu mir an der Kasse bei Reichelt: Ihnen ist Ihre Putenbrust runtergefallen. – Putenbrust in Scheiben in einer gelben Plastikverpackung. Sie hat sie aufgehoben und reicht sie mir. Ich sage: Danke. Da wäre ich jetzt drauf rumgetrampelt. – Sie wendet sich ab. Sie hat die Packung Putenbrust vom Boden aufgehoben, die mir, ohne dass ich es bemerkt habe, heruntergefallen ist; sie wollte nicht mit mir quatschen. – Ich lege die Plastikpackung auf das Warenförderband zu dem Netz mit den Schalotten und der Packung Salz. Davor der Einkauf der jungen Frau. Zitronengras, das ich nur als Wort von der Karte asiatischer Restaurants und als Aroma in Speisen kenne - und nur deshalb als solches erkenne, weil es auf dem Etikett der Klarsichtfolie steht, in welche die fingerdicken Stängel eingeschweißt sind. Außerdem hat die junge Frau noch eine Ananas gekauft. Was sie sonst noch gekauft hat, sehe ich nicht, weil sie inzwischen schon am Einpacken ist. – Ich betrachte sie von der Seite und frage mich, ob sie hübsch ist. Ich kann mich nicht entscheiden und schaue, wie sie angezogen ist: beige Wildlederstiefel mit dezenten Schnallen an den Schäften. Gibt es Dunkelbeige? – Alles, was sie trägt, ist dunkel, aber es ist kein Schwarz dabei. – Unverwaschene Blue Jeans. Dunkelblauer Anorak mit dunkelbraunem Pelzbesatz an der Kapuze. Anthrazitfarbener Schal. Ihre Haare sind schulterlang. Der Pony so geschnitten, wie das nur ein guter und dann auch teurer Friseur hinkriegt. Sie hat es eilig. Ich blicke ihr hinterher. Dünne lange Beine. – Ich hätte die blonde junge Frau nicht erwähnt, wenn ich nicht gleich darauf die andere große blonde Frau in der Akazienstraße gesehen hätte. Frau Anfang 20. die mit einer mittelalten Frau zusammensteht - die ihr was gegeben hat, wofür sie sich bedankt? – Die mittelalte Frau geht weiter. Während die blonde junge Frau stehen bleibt und auf ihre ausgestreckte linke Hand blickt. Im Vorübergehen sehe ich Cent-Stücke auf ihrer Hand. Eine schmale Hand mit langen Fingern. Mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand zählt sie das Geld. Wie viel wird es sein? 40, 50 Cent? – Ampel vor dem Café Sud. Normalerweise gehe ich bei Rot über die Straße. Jetzt warte ich, ob die junge Frau zu mir kommt und mich um Kleingeld bittet. – Reflexhaft stecke ich meine linke Hand in meine Manteltasche, obwohl da gar kein Geld drin ist; mein Kleingeld ist in meiner linken Hosentasche. In meiner linken Manteltasche ist mein kleines Sony-Aufnahmegerät, das ich neuerdings immer bei mir habe, um zu machen, was ich überfallartige Interviews nenne, wozu es bislang aber noch nicht gekommen ist. - Die blonde junge Frau tritt neben mich. Und da wird es auch schon grün. Sie geht los. Sie hat sich dafür entschieden, mich nicht anzusprechen, weil sie in mir einen Mann gesehen hat, der ihr nicht nur Geld gegeben, sondern der sie vielleicht blöd - also ihre Lage ausnutzend – angequatscht hätte. Tatsache ist, ich hätte ihr Geld gegeben und ich hätte sie in meiner leutseligen Art, die streng genommen auch als distanzlos bezeichnet werden kann, in ein Gespräch zu verwickeln versucht. Nicht, um ihre Situation auszunutzen, wie sie vielleicht gedacht hat, sondern um über sie schreiben zu können. Also hätte ich doch ihre Situation ausgenutzt. Und insofern hat sie schon die richtige Ahnung gehabt. - Während sie vor mir hergehend die Straße überquert, starre ich fasziniert auf ihren großkarierten pinkfarbenen Plastikrucksack. Deshalb entgeht mir, was für eine Jacke sie trägt. Wahrscheinlich eine Jeansjacke. Verwaschen wie ihre Hosen. Arme-Leute-Jeans mit geknöpften Gesäßtaschen. Ihre Haare, aschblond, hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf ihre Schuhe habe ich auch nicht geachtet. Wegen des Rucksacks, bei dem ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich ihn scheußlich oder rührend finden soll. – Auf der anderen Straßenseite spricht die junge Frau einen junge Mann an. Vermutlich ein Handwerker, der von der Arbeit kommt. Sie spricht so leise, dass ich nicht verstehen kann, was sie zu ihm sagt. Ich sehe nur die Grimasse, die sie macht bei dem, was sie sagt. Sie hat ein blasses, wie verwaschen aussehendes und ganz flaches Gesicht; nur die kleine gerötete Nase ragt hervor. Die Verlegenheitsgrimasse lässt das Gesicht noch flacher wirken. – Der junge Mann ist auch verlegen. Er lächelt sie an, greift in seine Hosentasche und sagt: 50 Cent? Mal sehen, ob ich die habe. – Im Weitergehen habe ich nachgeschaut, was ich an Kleingeld in der Hosentasche habe: vier 1-Euro-Stücke, ein 50-Cent-Stück, ein 10-Cent-Stück. – 50 Cent hätte ich ihr auch gegeben. Ich hätte ihr, wenn sie mich um ein bisschen Kleingeld gebeten hätte, 50 Cent gegeben. Und wahrscheinlich wäre ich wie der junge Mann dabei auch verlegen gewesen – wegen ihrer Verlegenheit. Deshalb hätte ich sie wahrscheinlich auch nicht in ein Gespräch verwickelt. Ich hätte ihr wortlos das Geldstück gegeben und mich hinterher gut gefühlt, es getan zu haben, ohne ihr aufdringliche neugierige Fragen zu stellen. Und bestimmt hätte ich dann auch nicht darüber geschrieben.