Mittwoch, 9. Februar 2011

Hart

Am Sonntag lese ich über den Auftritt von Monica Lierhaus bei der Verleihung der Goldenen Kamera im ZDF. Ich bin berührt. Berührt vom Berührtsein des Textes, den ich lese: 
Um kurz nach elf war Günter Netzer auf der Bühne und sagte: "Ich würde jetzt lieber einen Elfmeter in der 90. Minute vor einer Milliarde Menschen schießen als hier zu stehen - so nervös bin ich." Es war wohl nicht übertrieben: Mit zittrigen Händen hielt er die Karten, von denen er ablas, und am Ende versagte ihm bei ihrer Ankündigung die Stimme. 
Aber dann stand sie da vor dem Mikrofon, im blauen Abendkleid mit zusammengebundenen Haaren, blass, aber mit entschlossenem Blick: Netzers ARD-Kollegin Monica Lierhaus.
Gestern Abend auf süddeutsche.de ein bissiger, böser Kommentar zum TV-Auftritt von Monica Lierhaus. Der geile Moment. - Grundsatzerklärung im Artikel:
Es geht in unserem Gebührenfernsehen - dem mit jährlich rund acht Milliarden Euro teuersten der Welt - in Ermangelung an Stil, Humor und Vertrauen in die Zuschauer wenig um Sprache. Es geht stattdessen um eine Art Gott, und es ist dies der Gott des emotionalen Augenblicks.
Es ist eine inzwischen quasi pornographische Anbetung des einen, großen und bitte absolut geilen Moments, der ins Bild muss - und heute können wir sagen: koste es, was es wolle, zum Beispiel die Würde einer Frau wie Monica Lierhaus.
Der Kommentator meint: das hätte nicht sein sollen, nicht sein dürfen – Was ist gewesen? – Heute Früh schaue ich es mir auf YouTube an: Monica Lierhaus erhält Goldene Kamera 2011 - Ehrenpreis (in HQ): Günter Netzer, der ehemalige Mittelfeldspieler von Borussia Mönchengladbach und Real Madrid, der mit seiner hölzernen Art, im Fernsehen Fußballspiele zu analysieren, zum Publikumsliebling wurde, betritt die Bühne und liest einen Text vor. Man merkt, dass das kein Text von ihm ist, obwohl die Leute, die den Text geschrieben haben, ihn so geschrieben haben, dass man denken soll, er ist von ihm (Ich kokettiere nicht. Ich würde jetzt lieber einen Elfmeter in der 90. Minute schießen.). Dass das nicht sein Text ist, merkt man daran, dass er sichtlich Mühe hat, den Text vorzulesen. Wenn er vorher ein bisschen geübt hätte, würde man es vielleicht nicht merken. Aber Günter Netzer war schon als Fußballer bekannt für seine Bequemlichkeit. – In dem Text, den Günter Netzer vorliest, geht es um die Karriere der ehemaligen SAT.1-  und späteren Sportschau-Moderatorin Monica Lierhaus, dem Kronjuwel der ARD, und um den Schicksalsschlag, den sie vor zwei Jahren erlitten hat (Hirnblutung), und es geht darum, dass sie gleich eine Goldene Kamera als Ehrenpreis verliehen bekommen und dazu auf der Bühne erscheinen wird. - Als das klar ist, sieht man in einem der Zwischenschnitte auf das Publikum das Gesicht von Barbara Schöneberger – und das Gesicht sagt: Oh nein, sie werden doch nicht?! – Weiß sie in was für einer  körperlichen Verfassung Monica Lierhaus ist? – Jetzt können es alle sehen: Frau Lierhaus betritt die Bühne und bewegt sich in Richtung Rednerpult. Als der Beifall abgeklungen ist, spricht Frau Lierhaus. Ihre Sprechfähigkeit ist ähnlich eingeschränkt wie ihre Bewegungsfähigkeit. Es strengt sie an. Aber sie ringt sich das ab. Vielleicht hat sie ihren Text selbst geschrieben. Aber sie muss ihn ablesen. Wahrscheinlich war es auch ihre Idee, ihrem Lebensgefährten auf der Bühne einen Heiratsantrag zu machen. Es ist aber nicht so, dass sie das spontan tut. Unübersehbar, dass es inszeniert, also geplant ist. Gescriptet. Der Heiratsantrag. Die Überraschung des Lebensgefährten. Sein dreimal wiederholtes Ja. Sein Kniefall. Der Kuss des Paares. - Nur die Rührung des Saalpublikums ist nicht inszeniert. Mit der war zu rechnen. - Warum macht Frau Lierhaus das? – Weil sie ein Profi ist. Und weil sie sich nicht sicher sein kann, wie ihr Auftritt in diesem Stadium ihrer Rekonvaleszenz ankommt. Deshalb setzt sie einen drauf und lenkt damit ab von ihrer körperlichen Verfassung. Sie wirft den Zuschauern, wirft der Presse einen Brocken hin. Etwas, das ihre Aufmerksamkeit gefangen nimmt. Etwas, über das sie reden und schreiben können. Und wenn sie darüber reden und schreiben, dann reden und schreiben sie nicht davon, wie schlimm ihre Erkrankung gewesen sein muss, dass sie nach so langer Zeit immer noch so eingeschränkt ist in ihrer Bewegungsfähigkeit und in ihrer Sprechfähigkeit. - Zwei Tage später meldet Bild.de:
Die beliebte Moderatorin wird ab März neue Botschafterin von „Ein Platz an der Sonne“. Als neues Werbegesicht der ARD-Fernsehlotterie löst sie TV-Urgestein Frank Elstner ab.  
Es ist ein weiterer wichtiger Schritt in die neue TV-Zukunft von Sportmoderatorin Monica Lierhaus. Ihr größter Wunsch: Ihre Eigenständigkeit und ihre Unabhängigkeit wieder zu erlangen. „Dafür kämpfe ich, jeden Tag, sehr hart“, sagte Lierhaus.
Bei der behördenmäßigen Organisation der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ist kaum anzunehmen, dass die Entscheidung, ihr den neuen Job zu geben, eine spontane Reaktion auf den Auftritt von Frau Lierhaus und auf die Resonanz war, die er beim Publikum und in den Medien hatte. Vielmehr wird es so gewesen sein, dass es diesen Plan schon vorher gegeben hat. Und der Plan wird so gewesen sein, dass man den Auftritt als Probelauf angesetzt hat. Nimmt das Publikum Frau Lierhaus an, bekommt sie den Job. Wenn nicht, dann hat doch jeder gesehen, dass es nicht geht, dass sie dem Publikum nicht vermittelbar ist. – Das im Sinn haben und dann noch mal die Szene mit dem Heiratsantrag betrachten, die von der Behinderung ablenken soll – und sich dann darüber klar werden, dass Frau Lierhaus an diesem Abend um einen Job, um die Fortsetzung ihrer Karriere – man kann es tatsächlich nicht anders nennen – gekämpft hat. – Das kann man ergreifend finden. Das kann man peinlich finden. Es war Hyperrealismus. Zu sehen war die Härte des Daseins von Monica Lierhaus. Aufgeführt als Rührstück von und mit der Behinderten. Um Würde ist es dabei nicht gegangen.