Freitag, 25. Februar 2011

Schlachthaus

Gestern. Gegen 23 Uhr ruft Peter an. Er hält es für möglich, dass es schon zu spät ist für seinen Anruf. – Ich beruhige ihn deswegen. Was gibt es denn? – Er hat versucht, die neue Ausgabe der taz aufzurufen – die Ausgabe der taz vom nächsten Tag, die komplett immer schon am Vorabend über die Website der taz – frei - zugänglich ist, und es gehört zu den Lebensgewohnheiten Peters, die taz vom nächsten Tag am späten Abend zu lesen. Heute ist er nicht reingekommen wie sonst - über Archiv; er findet das Link nicht. – Das ist mir am Morgen auch passiert, sage ich. Da habe ich gesehen, dass die taz jetzt ein ePaper anbietet gegen Abo-Gebühr. – Das hat er auch gesehen und findet es im Prinzip auch richtig, dass sie Geld verlangen für ihre Zeitung. So ist Peter, dass er das versteht – dass er solidarisch ist mit der linken Zeitung, der taz. Ich verstehe es auch, finde es aber trotzdem schade. Gestern: Distinktionsgewinn. Heute: Distinktionsverlust. Heißt: dadurch zeichnet sich die taz ab jetzt nicht mehr aus gegenüber anderen Zeitungen, dass sie komplett frei zugänglich ist im Internet. (Wodurch zeichnet sie sich noch aus? Außer durch lustige Titelseiten? - Abschweifung über die taz gestrichen). Ich erzähle Peter, dass ich am Morgen über ein Link auf perlentaucher.de einen Artikel in der taz aufgerufen habe und dann über das Inhaltsverzeichnis am rechten Rand des Artikels frei und unentgeltlich wie gewohnt in der kompletten aktuellen Ausgabe navigieren konnte. Da ich aber schon bemerkt habe, dass Peter etwas hinfällig ist, verzichte ich darauf, ihm zu erklären, wie er am nächsten Morgen über perlentaucher.de – Heute in den Feuilletons – in die aktuelle Ausgabe der taz reinkommen kann. Es interessiert ihn jetzt auch nicht mehr. Weil er bewegt ist vom Geschehen in Libyen und darüber sprechen will. Vielleicht der eigentliche Grund seines Anrufs. - Er kann es nicht fassen, dass man das Gaddafi-Regime so lange hat gewähren lassen. – Ich weise darauf hin, dass Gaddafi Kreide gefressen hat, um sich international lieb Kind zu machen und frage: Wer hätte denn intervenieren sollen, um seine Herrschaft zu beenden? Das hätte doch nur eine militärische Allianz unter der Führung der USA sein können. Aber nur aus humanitären Gründen hätten die das nicht gemacht, und wenn sie es gemacht hätten nur aus humanitären Gründen, wäre es ihnen nicht abgenommen worden; es wäre weltweit ein Gezetere losgegangen von Leuten wie uns. Siehe Irak. Siehe Afghanistan. – Gerede eines müden Nachrichtenkonsumenten. Peter, noch müder als ich, weil etwas hinfällig, geht darauf nicht ein. Das wird nichts mit dem Gespräch. - Da fallen mir die Fotos ein, die ich am frühen Abend im Internet auf The Daily Beast gesehen habe; Berichterstattung über das Gemetzele in Libyen. Obwohl ich schon ahne, dass das nicht so einfach wird, Peter da hinzulotsen auf die Internet-Seite mit den Fotos, will ich, dass er sich die jetzt anschaut, weil ich sie gesehen habe und nicht ausgehalten habe, will ich, dass er sie auch sieht, und will – mit ihm darüber reden? Oder nehme ich einfach nur die Geste auf, mit der sie auf The Daily Beast gezeigt werden?  ... see shocking photos and videos. Beitrag mit knapp kommentiertem Video-Material und auf der dritten Seite Fotos. Die Videos habe ich nicht angesehen, nur die beiden Fotos auf Seite 3 (*) – Da versuche ich Peter jetzt hinzuführen, indem ich ihm erkläre, was er bei Google eingeben, um auf The Daily Beast zu kommen, und dort machen soll, um den Beitrag über Libyen zu finden mit den beiden Fotos auf Seite 3. Peter findet The Daily Beast, er findet den Beitrag, aber er schafft es wegen seiner Müdigkeit und seiner Hinfälligkeit trotz mehrerer Versuche nicht, auf die Seite 3 zu kommen. Er sieht nur die Rahmen der eingebetteten Video-Clips, er sieht keine Fotos. Ich will jetzt aber, dass er sie sieht. Und er ist gespannt darauf zu sehen, was mich so entsetzt hat. Obwohl er sich nicht vorstellen kann, dass es etwas gibt, was ihn noch erschüttern kann nach allem, was er schon gesehen hat im Leben und auf Bildern. Fotos von Leichen mit abgerissenen Armen habe ich schon genug gesehen, murmelt er. – Ich antworte: Es geht nicht um abgerissene Arme. Der eine von zwei Männern auf dem einen Foto hat noch seine beiden Arme, er hat auch noch seinen Kopf, aber sonst hat er nicht mehr viel. Während ich das sage, habe ich die Seite mit den beiden Fotos vor mir, scrolle immer wieder rauf und runter,  zwischen den beiden Fotos hin und her. Nicht, weil ich nervös bin oder ungeduldig, bis Peter sie endlich auch vor sich hat, sondern weil ich den Anblick nicht ertrage, weil ich immer gleich wieder weggucken muss. Das untere Foto von dem erschossenen Mann mit dem aufgerissenen Schädel und seinem auf dem Boden liegenden Gehirn ist schon nicht auszuhalten. Aber das Foto darüber – von den beiden verstümmelten Männerkörpern -, das setzt noch mal einen drauf. Das ist Schlachthaus. Nicht anders zu nennen. Schlachthaus. Aber nix Vonnegut, Dresden, lange her, Roman, Slaughterhouse-Five. Auch keine Journalistenpoesie: Tripolis ist ein Schlachthaus. Keine Metaphorik. Es ist jetzt und es ist wörtlich, graphic, anschaulich, drastisch: Schlachthaus. – Und das soll Peter jetzt auch sehen. Damit wir darüber reden können. Deshalb noch mal ein Anlauf. Zurück auf die Startseite von The Daily Beast, im Fenster mit den wechselnden Motiven den Artikel mit Tripolis anklicken, auf der Seite, die dann erscheint, runter scrollen, bis zu page 1 2 3,  die Drei anklicken. Siehst du jetzt die Fotos? – Nein, ich sehe nur die Videos. – Lassen wir es, sage ich. – Telefonieren wir morgen wieder, sagt er. – Bis dann. - Ich maile Peter die Adresse der Seite. Warum bin ich da nicht eher drauf gekommen? Dann hätte er die Fotos schon längst vor Augen gehabt und wir hätten darüber reden können. - Gut, dass wir es nicht getan haben. Denn was gibt es zu sagen? Außer: Der Anblick der Fotos ist nicht zu ertragen. - Keine Kritik an der Veröffentlichung der Fotos. In Libyen aufgenommen, veröffentlicht über Twitter. Es ist geschehen. Es gibt die Fotos. Sie müssen gezeigt werden. Aber sie müssen nicht angesehen werden. Ich setze ein Link auf die Seite mit den Fotos, weil es sie gibt, weil ich sie gesehen habe, weil es in diesem Text um die Fotos geht: View images below from the streets published on Twitter. Warning: Extremely graphic.

(*) Der Beitrag auf The Daily Beast wurde seit Donnerstagabend mehrfach aktualisiert und erweitert; die genannten Fotos stehen immer auf der letzten Seite (inzwischen Seite 5).