Samstag, 26. Februar 2011

Toleranz

Das Odol-Fläschchen ist beim Auspacken der Einkäufe auf den Boden gefallen und nicht in tausend Stücke zersprungen. Am Nachmittag bin ich dann doch nicht einen langen Weg gegangen, um nachzudenken; immer auf der sonnigen Seite der Straßen. - Nachdenken im Supermarkt. Hinter mir die Frau, einen Kopf kleiner als ich, schwarze lockige Haare, blasses Gesicht, Kurzmantel, schwarz-weiß gesprenkelt. In den Vierzigern. Lächelt, als ich mich umdrehe, um nachzusehen, wer hinter mir steht. An der Kasse. Im türkischen Supermarkt in der Hauptstraße. Orangenkauf. Süß, saftig, kernlos. Keine Lust mehr, mich rumzuquälen mit den Orangen von Aldi; das wird diese Saison nichts mehr; wie schaffen die das, dass da immer Handelsklasse I drauf steht? – Langeweile beim Warten. Was hat die Frau hinter mir gekauft? Einen Endiviensalat. Ein Glas – sieht aus wie Honig. Eine türkische Süßigkeit. Einen Beutel, von der Größe eines Gewürzbeutels; darin ist etwas Grünes, Zerhacktes. Gleich werde ich erfahren was. Als die Frau den Beutel vom Band nimmt und ihn hinter die kleinen Nutella-Gläser schiebt, die auf einem Regal stehen mit anderen Süßwaren gleich neben der Frau. – Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich da gefragt habe; es ist mir entfallen: ich war schon mal heller im Kopf als heute. Was könnte ich gefragt haben? – Haben Sie es sich anders überlegt? – Die Frage ohnehin nur Vorwand. Vorbereitungsfrage für die eigentliche Frage. – Die Frau antwortet, dass sie sich vertan hat, dass sie etwas anderes haben wollte und nicht Petersilie. – An meine nächste Frage erinnere ich mich: Warum holen Sie sich dann nicht das, was sie haben wollten? – Diese Frage stelle ich aber nicht. Denn dann könnte ich auch gleich noch die eigentliche Frage hinterher stellen: Warum bringen sie den Beutel nicht zurück, anstatt ihn hinter die kleinen Nutella-Gläser zu stecken, wo er nicht hingehört? – Diese Frage arbeitet in mir. Das heißt: ich unterdrücke sie, während ich mir überlege, ob ich sie stellen soll. Dabei wird mir klar, dass es sich bei der Petersilie um getrocknete Petersilie handelt, nicht so schnell verderblich; die ist auch noch verkaufbar, wenn sie vom Personal des Supermarkts in zwei Wochen oder in zwei Monaten erst entdeckt wird. - Trotzdem. Die Frau hätte den Beutel auch dem Mann an der Kasse geben können, der ihn zur Seite gelegt hätte und mit den anderen zur Seite gelegten Waren hätte er später wieder einsortiert werden können ins Sortiment. – Was die Frau da gemacht hat, das ist nicht korrekt. Aber was geht es mich an? Und will ich der Typ sein, der sich in so einen unbedeutenden Vorfall einmischt? – Ich entscheide mich dafür, nicht dieser Typ zu sein. Was mir nicht leicht fällt. – Später komme ich in einem anderen Zusammenhang auf den unbedeutenden Vorfall zurück. In dem Zusammenhang geht es um Toleranz. Gegenüber dem Blödsinn, den ein Popstar geschrieben hat an einer Stelle in einem sonst sehr aufgeweckten, erfrischenden Text. Ich war schon kurz davor, auf diesen Blödsinn einzugehen hier, habe dann aber zum Glück gedacht, dass das okay ist für einen Popstar, so einen Blödsinn zu verkünden. Dass das geradezu den Popstar ausmacht, diesen Blödsinn zu verkünden. Vielleicht hat sie, der Popstar Judith Holofernes, sich auch etwas gedacht dabei, auf das ich nicht komme, und alleine schon deshalb ist es besser, der Typ zu sein, der nicht auf den Blödsinn eingeht. Genauso wie es besser ist, der Typ zu sein, der die dunkelhaarige Frau in dem gesprenkelten Kurzmantel nicht anspricht auf ihr Verhalten mit dem Beutel getrocknete Petersilie. – So zu denken versetzt mich in eine großzügige Stimmung mir gegenüber, so dass ich mir überlege: Wenn ich das mal geschafft habe, diese Toleranz auch wirklich zu haben und sie mir nicht mehr abverlangen zu müssen, dann kann ich die Frage, die ich stellen wollte: Warum bringen Sie den Beutel nicht zurück? – dann kann ich diese Frage stellen. Aber jetzt nicht mehr im Ton der Intoleranz, sondern als eine ganz sachliche, beiläufige Frage, einfach nur aus meinem Interesse an anderen Menschen - was sie so machen und wie sie so sind. Dann kann ich sogar den Intoleranten spielen und die Frage in vorwurfsvollem Ton stellen, um auf diese Art gleich noch mehr zu erfahren über die Frau – wie sie so ist und was sie macht, wenn ihr jemand so kommt wie ich dann. – Aber hätte ich dann nicht auch gleich meinem Impuls folgen können, sie zu fragen, warum sie den Beutel mit der getrockneten Petersilie nicht zurück gebracht hat, dorthin, wo sie ihn her hatte, oder warum sie ihn nicht wenigstens dem Mann an der Kasse gegeben hat? – Dann hätte ich was erlebt. Dann hätte sie was erlebt. Dann hätte ich jetzt von der Reaktion der Frau erzählen können. Ich hätte ihr einen Auftritt verschafft und der wäre vielleicht richtig gut gewesen. Oder auch nicht. Auf jeden Fall besser, als das, was ich mir alles  g e d a c h t  habe. – Mir fehlt im Moment die Orientierung. Ich bitte um Geduld.

Kein Zusammenhang mit dem Text. Fund der Woche: Laurel Nakadate .- ihre WebsiteTWK anklicken. Film: The Wolf Knife angucken. Nichts erwarten. Nur gucken.