Donnerstag, 17. März 2011

Helden

Die 50 Männer im havarierten Kernkraftwerk in Fukushima. Die werden sterben, sage ich. – Die werden sterben, sagt Peter. – Auch wenn sie den schlimmsten Fall abwenden können, werden sie in den nächsten Jahren an den Folgen der Radioaktivität sterben, der sie jetzt ausgesetzt sind. So wie viele der Liquidatoren von Tschernobyl qualvoll gestorben sind hinterher. – Im Hintergrund läuft bei mir ein Konzert von Kraftwerk. Kein Bezug zu den Ereignissen. Kraftwerk heißt einfach so, schon seit 1970. Das Konzert ist von 2005. Doppel-CD: Minimum-Maximum. Habe ich aufgelegt, weil mir nichts anderes eingefallen ist. Jetzt stelle ich fest, dass es die beste Wahl war. Seit die CD läuft, hat sich meine Stimmung verbessert von tief deprimiert zu fast schon ausgelassen. Das habe ich gemerkt, als ich Peters Klage-Monolog zu Beginn unseres Telefongesprächs nicht mehr anhören konnte. Dreimal habe ich ihn unterbrochen. Du musst Kraftwerk hören, habe ich zu ihm gesagt. Versuch es mal mit Kraftwerk. – Bloß nicht, hat er darauf gesagt. Aber es hat gewirkt. Wir haben nicht mehr über sein Nasenbluten gesprochen und über die Rechnungen auf seinem Schreibtisch, sondern über Kraftwerk und danach über die Japan-Berichterstattung auf SPIEGELONLINE, die Peter reißerisch findet und ich betulich. Auf jeden Fall umständlich und verzerrend mit ihrem vom SPIEGEL-Magazin übernommenen altmodischen Story-Stil. Wir wollen Informationen, nicht unterhalten werden. - Aber was soll man sonst lesen? fragt Peter. - Ich sage es ihm ungern, weil er kann kein Englisch: The New York Times. Die berichten einfach nur über das, was sie sehen, hören und wissen. Sache. - In Deutschland ist mir nur ein Journalist bekannt, der so schreibt: Günter Bannas von der FAZ. Berichtet über den Politikbetrieb in Berlin. Der ist im Moment jedoch nicht so wichtig wie Japan: Tokio. Fukushima. Das Runterkühlen der Brennstäbe. Die 50 Männer, die das versuchen im Kraftwerk 1 unter Einsatz ihres Lebens. Würden wir das auch machen? -  Peter könnte sich das vorstellen. Das glaube ich auch, dass er das machen würde. Weil er eine Helferpersönlichkeit ist. Ohne zu überlegen. würde er das machen. Bei mir bin ich mir da nicht so sicher. Ich würde überlegen. Peter hat mir schon mal von seinen Tagträumen erzählt, in denen er sich mit anderen in einer Gefahrensituation sieht und – wie soll er es sagen? – seinen Mann steht. Nicht als Anführer sieht er sich da, nur als jemand, der nicht in Panik gerät und tut, was getan werden muss. Hawksian Hero, denke ich. Peter denkt an seine Phantasie mit dem überfüllten Rettungsboot. Hat er mir schon mal erzählt. Ich erinnere mich nur noch vage daran. Habe jetzt aber keine Lust, mir die Phantasie noch mal anzuhören. Ich unterbreche ihn. Sage wieder, Kraftwerk. Hörst du das? Jetzt läuft gerade ihre Schnulze. NeonlichtUnd wenn dann der Tag anbricht … . – Übrigens, ich habe vorhin über dich geschrieben.  – Peter: Oh! – Nicht so schlimm, beruhige ich ihn. Nicht so böse wie am Samstag. Mehr sage ich nicht. Sage ich nie. Er fragt auch nicht. Fragt nie. Er wird es lesen. Wegen Schlafstörung um drei Uhr Früh. Und danach schreibt er mir gleich eine Mail:
Wolfgang,
Ich fühle mich wirklich als Krebskranker
und es ist keine Pose.
Nicht daß ich besondere Angst hätte,
aber ich denke immer an meinen jüngeren Bruder,
der noch 5 Wochen vor seinen Tod
putzmunter hier zu Besuch war
und auf Anfrage meinte,
"natürlich würde ich gerne noch eine Weile leben".
Ich habs dir erzählt:
vielleicht sterbe ich vor lauter Solidarität mit meinem Bruder,
der mir gegenüber immer benachteiligt war.
Es wäre mir ein Glück,
auch wenn das am Telefon im Small Talk nicht so klingen mag.
Lese das, lese es unwillig. Sterben aus Solidarität mit seinem Bruder. Und ein Glück wäre es ihm auch noch. Schmonzes! – Erste Reaktion. Später: Nur, weil mir etwas fremd ist, muss es noch lange nicht aufgesetzt, gekünstelt, ausgedacht, Pose sein. – Versuch es zu verstehen! Peter fragen. Anruf. - Er sagt, er hat ein riesengroßes schlechtes Gewissen seinem vor acht Jahren verstorbenen Bruder gegenüber. Weil er seinem Bruder immer vorgezogen wurde. – Aber das Leben deines Bruders wird doch im Nachhinein nicht schöner, wenn du jetzt auch stirbst. – Peter weint! –  Ich erinnere mich an das schlechte Gewissen, das ich in dem Augenblick hatte, als ich vom Tod des Hamburgers erfuhr. Weil ich ihm immer so feindselig begegnet bin. Doch das war etwas anderes. Er ist mir auch feindselig begegnet. Das schlechte Gewissen hatte ich nur einen Moment lang. Einen Bruder habe ich nicht. – Peter sagt: Es sei keine Überlegung, es sei ein Gefühl, eine Geste, dass er sich wünscht, das Schicksal seines Bruders zu teilen. Nicht Peters Worte, so versuche ich es mir zu erklären, was er meinen könnte. Ich kann es mir nicht erklären. Er erzählt, dass er manchmal laut zu sich selbst sagt: Ich möchte nicht mehr. – Doch das hat nicht mit seinem Bruder zu tun. Das hat mit dem ständigen Nasenbluten zu tun, das immer schlimmer wird. Das hat mit den ständigen Rückenschmerzen zu tun wegen der er morgens um drei schon aufwacht und dann nicht mehr einschlafen kann. Und es hat mit dem Knubbel am Hals zu tun, der immer größer wird, immer beängstigender aussieht und sich inzwischen auch so anfühlt. – Ich komme zurück auf seine Phantasie über das Verhalten in Krisensituationen. Das ist keine Phantasie sagt er, es ist ein Gedanke. Schon als Zwölfjähriger hat er sich gefragt: Wie entpuppen sich Menschen im Ausnahmezustand? Und wie wird er sich entpuppen in einem Moment höchster Gefahr? – In Panik geraten, die Kontrolle über sich verlieren, anderen zur Last fallen, statt ihnen eine Hilfe zu sein? Oder wird er dann seinen Mann stehen? – Das hat er sich immer gewünscht, dass das so wäre. Jetzt ist er in dieser Lage. Sie ist ganz anders, als er sie sich ausgemalt hat. Kein überfülltes Rettungsboot, kein Feuer, keine Explosionen. Nasenbluten. Rückenschmerzen. Knubbel.