Dienstag, 15. März 2011

Sonderangebot

Dottergelbe Krokusse auf dem begrünten Mittelstreifen der Hauptstraße. Ein paar weiße und violette sind auch dabei. – In die Bibliothek, um Thomas Pynchon, Natürliche Mängel zurückzugeben, da nicht verlängerbar wegen Vormerkungen. Kein Schaden. Auch acht Wochen später wäre ich noch nicht über die Seite 19 hinaus gekommen. Das Spiel mit der Form des Detektivromans in der Manier von Dashiell Hammett und Raymond Chandler, angesiedelt in der Pop-und-Happiness-Explosion der 60er Jahre interessiert mich nicht, schon gar nicht in der deutschen Übersetzung; wenn der Roman ein Ereignis ist, dann ist er ein Sprachereignis (60er-Jahre-Jargon) und das ist nicht übersetzbar. – Inherent Vice (Originaltitel) lese ich, wenn ich mal krank bin oder in der geistig kritischen Phase der Nikotinentwöhnung. Dein Friseur gewöhnt sich wohl gerade das Rauchen ab, sagt einer zum anderen auf der zweiten Seite von Thomas Pynchon, Vineland. Ein Roman wie eine detonierende Granate. So einen Text müsste es mal wieder geben. – Verbot von Kalauer-Assoziationen mit Explosionen in Kernkraftwerken. Unbehagen beim Rollenverhalten des abgebrühten Nachrichtenkonsumenten. Aber gleich so weit gehen, wie Kommentatoren, die beklagen, dass die deutsche Öffentlichkeit es an Mitgefühl fehlen lässt und nichts Besseres weiß, als sich mit den Kernkraftrisiken im eigenen Land zu beschäftigen? – Was sollen wir denn machen? Aus Pietät oder was die Chance (GAU in Japan + drei Landtagswahlen) verpassen, die von Schwarz-gelb beschlossenen Laufzeitverlängerungen rückgängig zu machen? - Es ist übrigens keineswegs so, dass es in Japan keine Anti-AKW-Bewegung gibt. Sie ist nur verteilt auf disparate Bevölkerungsgruppen - Bauern und Fischer, Frauen, vor allem Mütter, in Großstädten und akademische Kreise -, die nicht vernetzt sind und daher ohne politische Wirkung. Doch das wird sich ändern, meint der Autor eines Artikels in der Papier-FAZ, die ich gelesen habe in der Bibliothek. Am Ende werden die Japaner die Ersten und die Besten sein beim Ausstieg aus der Kernenergie, wie sie immer schon die Ersten und die Besten gewesen sind, wenn sie etwas angepackt haben, meint der Autor, ein Umwelthistoriker. Ich wünsche den Japanern von ganzem Herzen, dass er Recht hat, und lese dann noch einen Artikel über das Buch einer jungen Autorin, die zwölf Jahre lang als polnische Putzfrau in Deutschland gearbeitet hat. Titel des Buches: Unter deutschen Betten. Dort hat die Autorin unter anderem einen toten Hamster gefunden, eingetrocknetes Erbrochenes vom Hund, mehrere gebrauchte Kondome und Tampons in verschiedenen Stadien der Verwesung und einmal hat sogar ein ganzer Nagel von einem großen Zeh unter einem Bett gelegen. Schlimmer noch als das fand die Autorin die Schäbigkeit ihrer Arbeitgeber, die an einem heißen Nachmittag Eistee tranken, und sie musste hinterher die Kanne abspülen, ohne dass man ihr ein Glas Tee angeboten hatte. Eine Frau hat sie nicht bezahlt mit der Begründung, sie könne heute kein Geld mehr ausgeben, weil sie gerade mal wieder einen Kaufrausch gehabt hätte und sich eine Hose für 700 Euro kaufen musste. Während ein Mann sich nicht zu schade war für das Klischee, eben noch gegenüber seiner Ehefrau schönzutun, und kaum war sie weg, vor der Autorin die Hose runterzulassen und für die 10 Euro Putzfrauen-Stundenlohn auch noch sexuelle Dienstleistungen zu erwarten. – Was soll man dazu sagen? – Gegenfrage: Was soll denn außer Staubflusen sonst unter den Betten liegen, das der Rede wert wäre? - Dämlicher Artikel. Dämliches Buch. Hoffentlich hat die Autorin mit ihrem nächsten Buch mehr Glück. – Während ich mir die Vorgeschichte des ganzen Zehennagels vorzustellen versuche (ergebnislos), gehe ich zur Back Factory, was ein so bescheuerter Name ist, dass ich ihn nie verwenden wollte. Das lässt sich nun aber nicht mehr vermeiden, da ich mir dort inzwischen jeden Nachmittag ein schmackhaftes Weizenbrötchen für 15 Cent kaufe. Heute steht vor mir eine junge Frau mit langem Mantel und einem Kopftuch, das sie nicht mit großstädtischem Chic trägt wie Berliner Türkinnen es tun, sondern wie eine Bäuerin ins Gesicht gezogen. Daraus folgere ich, dass sie noch nicht lange in Deutschland ist. Vor allem aber wundere ich mich darüber, wie viele Brötchen sie mit der Zange aus dem transparenten Kasten nimmt, um sie auf ihr Tablett zu legen (in der Back Factory hat man ein Tablett), auf dem schon ein Süßstück liegt, das, glaube ich, als Schweinsohr bezeichnet wird. Während ich mich wundere, gucke ich mir schon das Brötchen meiner Wahl aus und bin gespannt, ob die junge Frau es mir übrig lassen wird. Nachdem sie die Zange zurückgelegt hat, wendet sie sich überraschend an mich, indem sie auf das Preisschild an dem Kasten deutet. Überraschend, weil junge Frauen mit Kopftuch und in langen Mänteln sich nie an Männer wie mich wenden. Ich will jetzt alles richtig machen und setze meine Lesebrille auf. Auf dem Preisschild steht, dass man beim Kauf von 10 Weizenbrötchen statt 1 Euro 50 nur 1 Euro 29 zahlen muss. – Ich erkläre ihr das. Denn ich habe in diesem Moment noch nicht verstanden, warum sie auf das Preisschild gedeutet hat. Und dann sage ich noch in meiner manchmal schon lehrerhaften Art: Die müssen Sie dann aber auch alle essen. Womit ich auf die Unsinnigkeit mancher Sonderangebote hinweisen will. Sie geht darauf nicht ein, weil sie entweder kein Deutsch versteht oder sich inzwischen daran erinnert hat, dass junge Frauen mit Kopftuch und in langen Mänteln nicht mit Männern wie mir reden. An der Kasse stehe ich hinter ihr und zähle die Brötchen auf ihrem Tablett. Für die 10 Brötchen und für das Schweinsohr zahlt sie 1 Euro 89. Inzwischen habe ich mir überlegt, was sie mit den 10 Brötchen machen wird. So jung wie sie ist, hat sie garantiert noch nicht so viele Kinder, um deren Münder damit stopfen zu können. Es könnte eher so sein, dass ihr Mann, wenn er nach Hause kommt und die vielen Brötchen sieht, mit ihr schimpft, weil sie sich mal wieder von einem Sonderangebot hat blenden lassen. Sie ist sehr klein, bemerke ich, als sie weggeht. Ohne sich von mir zu verabschieden, weil junge Frauen mit Kopftuch und langen Mänteln das nicht machen. Schon ungewöhnlich genug, dass sie mir mit dem Deuten auf das Preisschild erklärt hat, warum sie so viele Brötchen kauft. Nachdem sie offenbar meine Verwunderung bemerkt hatte.