Samstag, 30. April 2011

Erschüttert

Innerlich verstockt bin ich heute. Daher kommt es auch, dass ich mich dazu nicht weiter äußern will. Dass ich auf dem Weg zu Kaiser´s am Nollendorfplatz mir wünsche, dass etwas passieren möge, damit ich heute nicht über die Folgen der Verstocktheit schreiben muss, weil sonst nichts gewesen ist. Da nichts passiert, überlege ich, was passieren soll, was passieren könnte – was kann mir schon passieren? – Entweder, dass ich eine Idee habe, die mich mitreißt, oder jemanden treffe, der – ja was? – mich überrascht. Ist es das? Mich überrascht? überlege ich, während ich die durch die Goltz gehe auf der sonnigen Seite der Straße und nun vor mir sehe ein kleines Mädchen mit roten Haaren und einem roten Rucksack. Ein Kind unterwegs von einem Elternteil zum anderen Elternteil, um dort das Wochenende zu verbringen? Das ist allerdings eine Erscheinung des späten Freitagnachmittags oder frühen Freitagabends, nicht des frühen Samstagnachmittags: Kinder, die zwischen den getrennten Elternteilen unterwegs sind mit Rucksäcken mit Kleidern zum Wechseln drin für zwei Tage und was ein Kind so hat an persönlichen Sachen. Und sie sind dann auch unterwegs mit ihren Vätern. Das Kind mit dem roten Rucksack ist jedoch in Begleitung einer Frau, und als ich die beiden überhole und zu der Frau hingucke, ist das Bettina und das Kind ist das Kind, das ich kenne von Schwangerschaft an und trotzdem weiß ich nicht, wie das Kind heißt, weil sein Name so ungewöhnlich ist, und ich mich jedes Mal scheue zu fragen, denn ich müsste es eigentlich wissen. Zweimal spricht Bettina das Kind an mit Namen, während wir nebeneinander hergehen und uns unterhalten. Doch ich kann noch so sehr die Ohren spitzen, ich kriege den Namen nicht richtig mit. Gesa, höre ich, aber das ist er nicht, das weiß ich, und jetzt frage ich mal. – Veza, sprich: wesa, ist der Name und Bettina sagt mir auch gleich, wie man ihn schreibt und woher er kommt. Das weiß ich noch, von einer Schriftstellerin, die Bettina und Guido viel bedeutet, jedoch nicht so bekannt ist. Veza hieß die erste Frau von Elias Canetti, die nach Ansicht von Bettina schriftstellerisch bedeutender war als Canetti, den sie nicht so wichtig findet (ich auch nicht). – Der rote Rucksack des Kindes ist ein Schulrucksack. Den haben die beiden gerade gekauft. Geburtstagsgeschenk. Veza ist heute sechs Jahre alt geworden. Und deshalb ist Guido nicht dabei; er kauft ein für die Party morgen. Herzlichen Glückwünsch, Veza! – Dankeschön, antwortet sie zierlich. Die Drei sind gerade aus Israel zurück, wo Bettina zwei Monate als Gastprofessorin gelehrt hat.  - In Tel Aviv? – In Jerusalem. In Tel Aviv gibt es keine deutsche Abteilung. –  Deutsche Abteilung? In Politikwissenschaft? – In Literaturwissenschaft. – Du bist Literaturwissenschaftlerin? frage ich so verblüfft, dass Bettina, die eine der unaffigsten Personen weit und breit ist, nun nicht anders kann, als zu sagen: Ja, ab und zu lese ich einen Roman und spreche mit Studenten darüber. - Weißt du, dass ich, seit wir uns kennen, fest davon überzeugt bin, dass du Politikwissenschaftlerin bist und so auch immer mit dir geredet habe? Zum Beispiel einmal einen Rüffel von dir wegen einer These über latenten chronischen Faschismus widerspruchslos eingesteckt habe wegen der politikwissenschaftlichen Autorität, als die ich dich betrachtet habe? – Bettina ist amüsiert und ich bin baff.  - Da habe ich sie jetzt, meine Überraschung. Das Wünschen hat geholfen und gelernt habe ich gleich auch noch was: Das Kind heißt Veza. Bettina ist Literaturwissenschaftlerin. Und ich sollte mal auf meine festen Überzeugungen achtgeben. Vielleicht kann ich da noch ganz andere Überraschungen erleben.

Freitag, 29. April 2011

Kate

Es geht mir gut. -  Das sieht man dir an. -  Es geht mir immer gut. – Das kann doch gar nicht sein, dass es dir immer gut geht. – Doch. Schlechten Menschen geht es immer gut. – Ist ein Spruch. – Sprichwort. Ich liebe deutsche Sprichwörter. – Ach! – Es gibt so schöne deutsche Sprichwörter und so viele. – Aber sie sterben aus, weil er der einzige 21jährige ist, der sie noch benutzt. Es gibt auch viele gute englische Sprichwörter, sage ich. Und bestimmt auch viele gute türkische. – Ja, es gibt ein paar türkische Sprichwörter, die sind nicht schlecht. Aber die deutschen sind die besten. – Du bist richtig gerne Deutscher. – Ja. – Selbst, wenn ich jetzt wollte, könnte ich seinen Namen nicht schreiben. Ich weiß, wie man ihn ausspricht; er hat meine Aussprache des Namens einige Male korrigiert: das O ist lang und das Z als scharfes S auszusprechen. Aber schreiben kann ich den Namen nicht, obwohl ich ihn schon einmal geschrieben gesehen habe. Auf der Urkunde, die er bekommen hat für die bestandene Prüfung beim Lehrgang für das Geschäft mit Toto-Lotto. Das nächste Mal werde ich ihn nach der korrekten Schreibung seines Namens fragen und dabei werde ich erwähnen, dass ich ihn künftig namentlich in meinem Blog auftreten lasse; nicht namentlich ist er schon aufgetreten. Er ist der Nachfolger des verstorbenen Hamburgers. Nichts Schlechtes über die Toten, weil sie sich nicht mehr wehren können. Deshalb nur: Er ist ein sehr, sehr würdiger Nachfolger.

Unterwegs hätte ich gerne einen Engländer getroffen und ihn beglückwünscht zur Hochzeit von Kate Middleton und Prinz William in London, um auf diese Art auch etwas zu tun zu haben mit dem Ereignis des Tages. Doch der dafür in Frage kommende Dave ist nur noch selten in Berlin, sagt Wendela, die ich nach ihm frage, und sie bestätigt: Dave hätte sich gefreut und nicht etwa verkniffen eingewandt, er selbst habe nicht geheiratet. Er hätte den Glückwunsch dankend entgegengenommen, stellvertretend für seinen künftigen König und dessen Frau Kate. Dave ist nämlich so gerne Engländer wie  Oğuzhan gerne Deutscher ist. – Oğuzhan, sprich:  ˈoːzaːn.  Schreibung und Lautschrift recherchiert im Internet. So geht es auch.

Der Schneider Gecay, bei dem ich meine reparierten Jeans heute abholen kann, war bei der Auftragsannahme einsilbig, dünnlippig, ist anscheinend ein verschlossener, eigenbrötlerischer Mann und gab mir das Gefühl, zu nerven mit meinen vielen Fragen, die ich ihm stellte: Dreimal nach dem Preis, weil ich es nicht glauben konnte, dass er fast die Hälfte weniger verlangt als die anderen Änderungsschneider. Dann habe ich noch nach dem Stoff gefragt, den er einsetzen wird, und der Größe des Stücks Stoffs und zweimal nach der Sichtbarkeit der Nähte von außen. – Als ich hinkomme, hat er gerade ein Paar Jeans auf seiner Nähmaschine in der Mache und ich denke erst, es sind meine. Nein, die hat er schon längst fertig. Sogar gebügelt hat er sie, wie ich gleich sehe, als er sie vom Kleiderbügel nimmt. Die Naht erkenne ich erst auf den dritten Blick mit Lesebrille. Das eingesetzte Stück Stoff hat genau die richtige Größe. Besser hätte man es nicht machen können, sage ich zu ihm und er ist nun überhaupt nicht mehr unzugänglich. Lächelt fein. Freut sich, dass ich mich freue – schlau werde ich aber nicht aus ihm. – Wissen Sie, dass Ihre Kollegen 14 oder 15 Euro nehmen für die gleiche Arbeit, sage ich, als ich ihm 8 Euro auf seinen Ladentisch lege? – Ich kenne alle Kollegen. Ich kenne ihre Preise. – Aber Sie bleiben bei Ihrem Preis? – Ich mache das seit 1980, antwortet er. Und hier im Laden seit 1987. – Ja, und? denke ich und sehe ihn erwartungsvoll an. – Nichts und. Er lächelt wissend. Und ich hake nach: Sie kennen Ihre Kunden? – Er lächelt. Ich gebe auf und sage: Mich haben Sie jetzt jedenfalls als Kunden gewonnen. Was kostet eigentlich eine Hose kürzer machen? – 6 Euro. – Bis bald.

Mein deutsches Lieblingssprichwort ist: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Der Satz ist auch wahr, wenn man nicht religiös eingeschüchtert ist von der Drohung ewiger Verdammnis. Man kann für Hölle auch Verderben setzen oder Lungenkrebs oder halbseitige Lähmung und Aphasie nach einem Schlaganfall, um einzusehen, wie lächerlich, sogar schädlich gute Vorsätze sind, weil sie einen in der Illusion leben lassen, zum Beispiel schon auf dem Weg zum Nichtrauchen zu sein, da der Entschluss feststeht und alles andere wird sich schon finden. Also bloß keine guten Vorsätze! Aber wie dann?

Donnerstag, 28. April 2011

Marxismus

Abschiedsstimmung im Hallenbad heute Morgen. Einen schönen Sommer, wünscht der Kassierer. – Lassen Sie uns das mit dem Weinen am Samstag machen, sage ich. Da komme ich noch mal. – Danach ist bis Herbst am Sachsendamm für uns Frühschwimmer geschlossen. Wohin dann nächste Woche? Prinzenbad hat geöffnet ab dem Wochenende. Ist mir zu weit weg. Und bei den für Anfang nächster Woche vorhergesagten 12 Grad Lufttemperatur ist es mir auch noch zu kühl fürs Freibad. Also Hallenbad am Heidelberger Platz. Und ab Mitte Juni das malerisch heruntergekommene Freibad in der Forckenbeckstraße. Bei der Gelegenheit: Wann öffnet eigentlich das Hallenbad in der Hauptstraße wieder? – Im Herbst, sagt der Kassierer. - September?  - Sieht so aus. - Sicher? - Der Kassierer muss es wissen. Er meint, ja. - Hey! Natürlich nichts im Vergleich zum Sportbad am Sachsendamm. Aber dort im Stadtbad Schöneberg hat es angefangen. Mit ihr. Dort hatten wir - ich mit ihr - unsere glücklichste Zeit. Bis das Bad im Sommer vor zwei Jahren geschlossen wurde, weil das Wasser durch die Decken lief und der Rost schon begann sich durch die kühne Stahlkonstruktion aus den 30er Jahren zu fressen. Nun stehen die aufwendigen Sanierungsarbeiten kurz vor dem Abschluss und während ich noch einmal in einen Sonnenaufgang am Sachsendamm schwimme, habe ich einen Tagtraum von einem kommenden frühen Morgen im September: Es ist der erste Tag, an dem das Stadtbad Schöneberg wieder geöffnet hat. Frühschwimmen. Ich sitze am Beckenrand, kneife die Augen zusammen, weil mich das schräg einfallende Sonnenlicht blendet und fiesele die Gummibänder meiner Schwimmbrille auseinander. Da sehe ich aus dem Augenwinkel eine vertraute Gestalt sich am Beckenrad niederlassen: Sie. Wie sie nun ihre Beine übereinander schlägt und sich die Haare zusammenbindet. – Falsch. Nicht die Haare zusammenbindet. Nicht mehr nötig, da sie inzwischen kurze Haare hat. Also: Sie, wie sie ihre Badekappe über ihre kurzen Haare zieht und dabei zu mir herschaut. Mir zulächelt, was sie noch nie gemacht hat. Und ich lächle zurück und sage Hallo, was ich auch noch nie gemacht habe. Was wir nun aber machen – uns anlächeln und Hallo sagen, weil wir uns nach mehr als zwei Jahren wiedersehen an dem Ort, an dem wir uns eine Zeit lang mehrmals die Woche begegnet sind. – Ich betrachte sie von der Seite und sage: Wie schön, das wieder zu sehen. – Was? fragt sie. – Sage ich Sie oder Du? Ich glaube, ich sage Sie und werde mich später darüber wundern, dass ich sie gesiezt habe. Und ich werde hinterher froh sein, dass ich nicht zu ihr gesagt habe, was ich immer wieder gedacht habe, wenn ich sie am Beckenrand stehen oder sitzen sah, angestrahlt vom schräg einfallenden Sonnenlicht, und es nicht fassen konnte, weil es einfach zu viel war, und dann jedes Mal mich an den Satz erinnert habe: Wer sie im Sonnenlicht sah, der sah den Marxismus sterben. (*) Dieser Satz ist mir auch jetzt wieder durch den Kopf gegangen, Aber er ist nicht von mir und romantische Verklärung hat mir kein Glück gebracht. Bei ihr nicht und überhaupt nicht. Deshalb sage ich einfach nur:  Es ist schön, das wieder zu sehen, wie sie Ihre Beine übereinander schlagen und wie Sie sich ihre Badekappe aufsetzen. – Ach ja? sagt sie darauf. Ich lasse mich von ihrem schnippischen Ton nicht irritieren und sage dann noch: Nur ihre Haare können Sie sich jetzt nicht mehr zusammenbinden. Aber es war eine sehr gute Idee, dass Sie sich die langen Haare abgeschnitten haben. Die kurzen Haare passen zu Ihnen. – Da lächelt sie, nicht auszumachen, ob geschmeichelt oder so, als würde sie noch mal sagen: Ach ja? und dann gleitet sie ins Wasser und schwimmt los. Von da an sehen wir uns wieder zwei-, manchmal dreimal die Woche, wir werden uns grüßen, miteinander reden oder auch nicht, wir werden uns kennenlernen oder auch nicht. Doch gleich, wie es kommt, wir werden nie, mit keinem Wort erwähnen, was in der Zwischenzeit war, während das Stadtbad Schöneberg geschlossen hatte und saniert wurde, denn das ist eine zu wirre Geschichte, die uns da passiert ist.

(*) Harold Brodkey; Innocence: To see her in the sunlight was to see marxism die. 

Mittwoch, 27. April 2011

Geschmeichelt

Er hat Fußball gespielt in Jugendmannschaften bei verschiedenen Berliner Vereinen. Unter anderem bei den Reinickendorfer Füchsen und bei Hertha. Scheint begehrt gewesen zu sein als Spieler. Vergessen zu fragen, auf welcher Position er gespielt hat. Abwehr? Mit feiner Technik und Offensivdrang? – Mit dem Fußball hat er aufgehört, als es mit den Mädchen losging und mit dem Nachtleben. - Alkohol? Drogen? – Keine Drogen. Alkohol schon. – Und jetzt immer noch Nachtleben? – Keine Zeit. Zu viel Arbeit. – Und feste Freundin? Verlobte? – Keine Frau. – Ich habe mir immer vorgestellt, dass du mit (Diskretion) der und der zusammen bist. – Sie würde das gerne haben. Aber ich nicht. – Du bist so alt wie sie, hat sie mir erzählt. – Richtig. 21. – Und du hast keine Freundin? – Interessiert mich nicht. – Was interessiert dich? – Er macht die Geste mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Geld verdienen will er, um unabhängig zu werden. – Und dir dann eine Frau finden? – Er nickt. – Ich erzähle ihm von einem Gespräch, das ich vor zwei Tagen mit einem anderen Mann hatte, auch türkisch. Nicht mehr ganz so jung wie er. 32. Sehr gut aussehender Mann aus einer sehr guten Familie. Hat ein gutgehendes Geschäft, Familienbetrieb. Mann, von dem ich immer annahm, dass ihm die Frauen nachlaufen. Tun sie vielleicht auch. Aber die Richtige, war noch nicht dabei. Sie wollen nur nehmen und nicht geben, hat er gesagt. Dass er das immer wieder erlebt hat. - Ich erzähle ihm das, weil ich mich gerade daran erinnert habe, aber auch, um ihn auszuforschen. Lässt er sich aber nicht. Oder es fällt ihm nichts dazu ein. Vielleicht denkt er, dass ihm das nicht passieren könnte, dass er immer an die falschen Frauen gerät. - Ich sehe auch gut aus,  sagt er nur. Ich schaue auf sein schütteres Haar, zweifle jedoch nicht daran, dass Frauen sich für ihn interessieren. Siehe die junge Frau, für die er sich nicht interessiert.

Am nächsten Tag arbeitet er wieder und jetzt stellt er die Fragen. Wie es mir geht? – Es geht mir schlecht, aber ich will ihn nicht belasten. Deshalb antworte ich: Ich arbeite daran, dass es besser wird. Hey, füge ich hinzu, das werde ich jetzt immer sagen, wenn ich gefragt werde, wie es mir geht. Denn genau so ist es: ich arbeite daran, dass es besser wird. – Er geht darauf nicht ein, stattdessen fragt er mich nun: Bist du verheiratet? – Nein. – Aber du warst mal verheiratet. – Nein. – Du lebst so mit einer Frau zusammen. – Nein. – Aber eine Freundin hast du. – Nein. – Aber du hast Kinder. – Keine Kinder. Das ist das große Pech meines Lebens, dass ich keine Kinder habe. – Du wolltest Kinder? – Ja. – Du hast die richtige Frau nicht gefunden? – Es hat nie gepasst und jetzt ist es zu spät. – Er kann es nicht fassen und es tut ihm leid: Du bist doch so ein cooler, offener und ehrlicher Typ. So einen Vater wünschen sich Kinder heutzutage. – Ich weiß, sage ich im Hinausgehen, setze mich auf mein Fahrrad und fahre nach Hause. Dass er mich so sieht! Es geht mir nicht aus dem Kopf, was er gesagt hat. Dass Kinder sich Väter wünschen, wie ich einer hätte sein können. Ich fühle mich geschmeichelt. Bis es nur noch weh tut.

Dienstag, 26. April 2011

Überstanden

Krähe kommt aufgeregt angeflattert. Kräht! Kreuzung Apostel-Paulus/Eisenacherstraße vor der Apotheke. Katze kommt angehastet, hatte wahrscheinlich zu tun in dem kleinen Park, der an die Martin-Luther grenzt. Hat es eilig, wird wahrscheinlich schon sehnsüchtig erwartet, vielleicht von einem Kind, das die Miezekatze noch mal streicheln möchte, bevor es in die Schule geht. - Da fällt mir ein, es sind ja Ferien! - Katze, ohne nach rechts oder links zu gucken, hastet über die Straße. Trotzdem eine sichere Sache. 6.20 Uhr. Kein Auto in Sicht. Die Gefahr kommt aus der Luft. Krähe kreist flatternd über der Katze, scheint zu warten, bis die Katze den Bürgersteig erreicht hat auf der anderen Straßenseite – und setzt zum Sturzflug an auf die Katze. Bremst dann ab, steht flatternd in der Luft über der Katze, die ich jetzt nicht mehr sehe wegen der am Straßenrand parkenden Autos. Katze scheint weiter zu hasten, Krähe steigt kurz auf, dann stößt sie wieder herab auf die Katze, bremst wieder ab, flattert bedrohlich über der Stelle, wo ich die Katze vermute, und steigt wieder auf - um nun abzudrehen. Fliegt eine Straßenlaterne an. Bogenlampe. Lässt sich nieder auf dem Bogen der Bogenlampe, hat die Katze weiter im Blick, guckt ihr hinterher. – Hey! Was war denn das? Dicke, fette Krähe greift Katze an! Und das im Herzen der Zivilisation! Vor der St. Annen-Apotheke, Kreuzung Apostel-Paulus/Eisenacherstraße. Was wollte die Krähe? Der Katze ein Auge aushacken? Blinde Aggression! Wo gibt´s denn so was?! Ich kann mir das nicht erklären. Bin gerade erst aufgestanden. Gedanken kann man das noch nicht nennen, was abläuft in meinem Kopf. Klar ist nur, dass ich solidarisch bin mit der Katze. Katzen sind meine nächsten Verwandten im Tierreich. Arme Katze! Gerade noch mal gut gegangen.

Im Hallenbad, mein Hauptansprechpartner in den frühen Morgenstunden, der Kassierer. Begrüßt mich mit der Frage: Alles gut überstanden? - Hä? Ach so. Ja, alles gut überstanden, murmle ich und erzähle ihm dann aufgeregt von dem Angriff der fetten Krähe. Was meinen Sie, was die da draußen mit unseren Mülltonnen machen, sagt er und meint die Krähen. – Verbrecher, fauche ich verächtlich. – Es gibt Schlimmeres, sagt er und ich merke, das wird heute nichts mit dem Gespräch. Im Duschraum treffe ich auf den lachenden Mann und seine Begleiter, den jungen Mann und den stattlichen älteren Mann. Von allen Dreien wird bemerkt, dass ich heute früher dran bin als sonst. Einen Bus früher genommen? fragt der lachende Mann. Ich lache und könnte sagen, dass ich heute nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad gekommen bin. Aber ich bin noch immer bei dem Angriff der Krähe auf die Katze und da will ich die Drei nicht mit hineinziehen. Festzuhalten bleibt nur, dass sie mich nicht fragen, ob ich alles gut überstanden habe. Das fragt mich dann der Mann mit der weißen Badekappe, der so eindrucksvoll lange und elegante Tauchgänge macht. Als er die Frage stellt, verlasse ich gerade das Becken, nachdem ich eine Stunde geschwommen und deshalb nun besser durchblutet bin. Für meine Antwort verwende ich eine Formulierung aus dem Posting von gestern, die ich gestrichen habe: Zwei Sonntage hintereinander ist schon übertrieben, sage ich und füge hinzu: genau genommen sogar drei Sonntage, mit einem Samstag dazwischen. – Ja, das ist unanständig, antwortet der Mann mit der weißen Badekappe und meint das ironisch. Während ich es so gesagt habe, wie es war. Nicht einfach war es, die vielen Feiertage zu überstehen. Eine kleine melancholische Geschichte dazu vielleicht morgen. Jetzt erst mal Duschen. Der Platz zu meiner Rechten ist frei. Denn der sympathische Sachse ist mit seiner Frau für drei Wochen nach Ungarn gereist zur Kur, an den  Thermalsee Hevitz. Möglich, dass er mich auch gefragt hätte, ob ich alles gut überstanden habe. So fragt mich das nun der weißhaarige Mann in meinem Alter, der beim Duschen immer zur Linken des sympathischen Sachsen steht. Na, alles gut überstanden? – Es zog sich etwas, antworte ich und wiederhole dann, was ich zuvor zum Mann mit der weißen Badekappe gesagt habe: drei Sonntage und dann noch ein Samstag dazwischen, das ist übertrieben. – Damit steht meine Antwort auf die Frage, ob ich alles gut überstanden habe. Aber nun fragt mich niemand mehr danach.

Zu der Geschichte mit der Krähe und der Katze ist noch anzumerken, was mir vorhin klargeworden ist. Da Tiere nichts ohne Grund tun und da die Krähe der Katze kein Auge ausgehackt, sondern sie nur bedroht hat, deshalb kann es nur so gewesen sein, dass die Krähe die Katze vertreiben, also in die Flucht schlagen wollte. Deswegen hat die Krähe schließlich von der Katze abgelassen und auf der Bogenlampe sitzend nur noch beobachtet, wie sich die Katze weiter entfernte. Wovon entfernte? Vom Nest der Krähe wahrscheinlich, an das sich die Katze herangeschlichen hatte, um sich über die kleinen nackten Krähen darin herzumachen. So muss es gewesen sein. - Ich nehme zurück, was ich zum Kassierer gesagt habe: Krähen sind keine Verbrecher. Bei meiner Solidarität mit Katzen bleibt es.

Montag, 25. April 2011

Hüpfen

Gegen Depressionen wie Feiertagsmelancholie oder verpassten Gelegenheiten Nachtrauern hilft Bouncing oder Reden mit einem Bouncer (*). – Den sehe ich schon von weitem, Mann im  blauem T-Shirt auf der Carl-Zuckmayer-Brücke: hüpfend, so hoch, dass ich erst denke, da steht ein Trampolin. Als ich hinkomme, ist da aber kein Trampolin. Da hat sich der Mann im blauen T-Shirt an das Brückengeländer gelehnt, um sich auszuruhen, und hat komische Dinger an seinen Füßen. Steht da, wo sonst der schöne Mann steht. Der war gestern da, ich habe ihn auch gesehen im Vorbeifahren, doch ich hatte keine Zeit, um endlich ein Interview mit ihm zu machen. Jetzt würde es mir passen, doch heute ist dem schönen Mann der Sonnenschein nicht zuverlässig genug oder ein Mal pro Woche da stehen reicht ihm. Dann eben mal den jungen Mann im blauen T-Shirt fragen, wie die Dinger an seinen Füßen heißen, damit ich ein Wort dafür habe, wenn ich später darüber schreiben werde, dass ich ihn gesehen habe. Denn viel mehr werde ich an diesem Nachmittag voraussichtlich nicht zu sehen kriegen, über das ich schreiben kann. – Die Dinger an seinen Füßen heißen Siebenmeilenstiefel, sagt der junge Mann, und da er meine Verwunderung bemerkt, zeigt er  mir. dass auf der Gummisohle der Dinger tatsächlich eingeprägt steht 7Meilenstiefel. – Und wie ist der technische Ausdruck dafür? – Sprungstelzen. – Hätte er auch gleich sagen können. Aber nichts gegen den jungen Mann! Er ist sehr aufgeschlossen und kennt das schon, dass er auf die Sprungstelzen angesprochen wird, und was dann für Fragen kommen. Irgendwann natürlich auch die Frage nach dem armen Deppen, der sich für den Rest seines Lebens von anderen den Arsch abwischen lassen muss, weil er für das Fernsehen mit Sprungstelzen über Autos gesprungen ist. – Das habe ich leider nicht gesehen, meint der Mann im blauen T-Shirt und kann mir dazu nur sagen, was er immer wieder sagt: Würden Sie mit ihrem Fahrrad über ein Auto springen? – Nein, antworte ich, um ihm die Freude zu machen, dass er darauf sagen kann: Na also! – Der junge Mann heißt Christian, wird in einem Monat 25, ist Elektroniker für Betriebstechnik und zur Zeit als SMR-Programmierer tätig, er wohnt am Bundesplatz und ist dort heute Vormittag mit seinen Sprungstelzen an den Füßen  in die U-Bahn eingestiegen, zum Alexanderplatz gefahren und von dort über den Potsdamer Platz und den Kurfürstendamm nach Schöneberg zur Carl-Zuckmayer-Brücke – ja, was? – gewandert. Mit federnden Stelzenschritten gegangen. Denn hüpfen kann man immer nur für kurze Zeit, sagt Christian, weil das zu viel Kraft kostet. 98 Prozent der Muskulatur werden beansprucht bei dieser Art der Fortbewegung. Und das ist einer der Gründe, warum man es macht: Fitness. Ein anderer Grund ist sicher, dass man auffällt, im wörtlichen Sinn herausragt, wenn man mit seinen Sprungstelzen herumstolziert. Mit 60 bis 90 anderen Bouncern wird Christian demnächst am Karneval der Kulturen teilnehmen – und da werden wir sicherlich auffallen, sagt er. Die Bouncer kommen dann von überall her, denn in Berlin gibt es noch nicht so viele von ihnen. Das sagt er nicht, das denke ich mir und die Frage, als was für eine Kultur sie da teilnehmen wollen beim Karneval der Kulturen, die verkneife ich mir. – Was war noch? – Christian hat zur Zeit Probleme mit seinen Waden. – Dann ist es also doch nicht so zuträglich, das Stolzieren auf Stelzen? – Kann man so nicht sagen: Das Problem ist, dass er sich die Waden wund gescheuert hat an den Stelzen. – Also kein muskuläres Problem, eine Hautempfindlichkeit? – Nein, ein muskuläres Problem. Weil er durch das Hüpfen und Stolzieren eine so kräftige Wadenmuskulatur bekommen hat, dass er inzwischen mit den Waden an den Stelzen anstößt. – Ich zeige mich beeindruckt, weil Christian so rührend ernsthaft ist in seiner Begeisterung. Und zum Dank für das Gespräch weise ich auf seinen Wunsch noch auf den Verein hin, in dem er sich mit 14 anderen Begeisterten organisiert hat. Berlin City Bouncers ist der Name des Vereins. Den hat er mir nicht genannt. Als ich ihn nach dem Namen fragte, hat er sich nur wortlos umgedreht und mir stolz den weißen Schriftzug auf der Rückseite seines blauen T-Shirts gezeigt: Berlin City Bouncers.

(*) to bounce = auf-, abprallen; springen, hüpfen, hopsen, dopsen

Sonntag, 24. April 2011

Fans

Im Posteingang gestern Abend nicht die mit Spannung erwartete Reaktion von Dani, dem ich die Adresse meines Blogs gemailt hatte, sondern eine Wut-Mail von Peter. – Was war passiert? – Am Freitag telefonieren wir am frühen Abend, während ich in der Küche das Abendessen vorbereite, Bier trinke, Zigaretten rauche und alte Bowie-CDs aus der Musikbibliothek höre: Erst Ziggy Stardust und anschließend Scary Monsters. Als Peter das mitkriegt, beschwert er sich erst, dass ich immer Musik höre, wenn ich mit ihm telefoniere (nicht zu ändern, zwischen 18.30 und 20.00 Uhr ist bei mir nun mal Party) und dann sagt er noch: Iiiieeeh, Bowie! Wie eklig! – Der sei arrogant. Ich wundere mich, dass er nie eine Bowie-Phase hatte, und dann auch wieder nicht. Doziere kurz über die Wandlungsfähigkeit von David Bowie, dass er sich mehrfach neu erfunden hat. Merke dann aber gleich, dass ich damit gerade Peter nicht beeindrucken kann, und denke an nichts Böses, als er mich fragt, ob ich seine Mail schon gelesen hätte. Mails lese ich frühmorgens und abends. Worum geht es denn Peter? – Wirst du ja sehen. – Hätte er es mir gleich gesagt, hätten wir es auch gleich ausfechten können, so zieht es sich hin, weil schriftlich:

Betreff: Kelly Family
Kannst du mir erklären,
warum ich eine Schwäche für sowas habe
und jedesmal heulen könnte.
http://www.youtube.com/watch?v=Ol5rSB44Kfk&feature=related


Betreff: Re: Kelly Family
Peter es ist peinlich, es ist unterste Schublade, ich kann es dir nicht erklären, ich gucke mir das nicht an, hör auf, mir so ein Zeug zu schicken. Das Sein bestimmt das Bewusstsein (Karl Marx). Hör auf damit, Dich mit so einem Kitsch abzugeben, und es wird wieder aufwärts gehen mit Deinem Leben!
W.

Betreff: Re: Kelly Family
Wolfgang,
du denkst,
Bowie wär was Besseres,
weil er ein arrogantes Arschloch ist.
Es ist deine Sache,
dich da wiederzufinden,
aber laß den Menschen die Möglichkeit,
sich ihre Gefühle da zu holen,
wo sie sie finden.,
selbst wenn es die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe,
oder,
ich will nen Cowboy als Mann ist.
Vielleicht gefällt es dir,
wenig Freunde zu haben,
aber vom hohen Roß aus
kann es schwierig sein, 

Ihnen und anderen zu begegnen.
Mehr Nachsicht,
mehr Einsicht,
dass Andere anders sind
und in der untersten Schublade
kann es manchmal gemütlicher sein,
als in der obersten.
P.

Betreff: Re: Kelly Family

Och, Peter! Ich nehm Dir doch nichts! Ich sag nur Kitsch! Kitsch! Kitsch! - Und ein Mensch ist, was er isst. Oder hört, oder ... . - Das Sein bestimmt das Bewusstsein! Basta!
W.

Betreff: Re: Kelly Family
... und Bowie ist nicht arrogant. Er ist aristokratisch: The Thin White Duke.

Betreff: Re: Kelly Family
Vor 17 Jahren ist mir eine wunderschöne Polin mit 5-jährigem Kind ins Büro geschneit und brauchte Hilfe. Ich war zwar nicht zuständig, aber die Lust, zu helfen, überwog. Ich habe dafür sorgen können, eine neue Wohnung zu finden, durfte ein paar schöne Fotos von ihr machen, aber dann hat sie einen smarten aber langweiligen Bullen geheiratet, der später Erzieher wurde und ein weiteres Kind gezeugt, das jetzt in de Psychiatrie ist. Inzwischen ist sie geschieden und wir hatten eine Beziehung angefangen, die erfüllend war, wie keine zuvor. Aber jetzt scheint ein Anderer wichtig zu sein und ich kann es nicht ändern, nur trauern.
P.

Als ich heute Früh diese letzte Mail lese (geschrieben 1.29 Uhr), freue ich mich, dass Peter nicht mehr beleidigt ist, bin verblüfft vom schnellen Themenwechsel und dann mal wieder überrascht von seiner Eigenart des Nach-und-Nach-Herausrückens mit einer Geschichte. Ich wusste, dass er H. (aka die Polnische) schon lange gut kannte, bevor sie vorletztes Jahr ein Liebespaar wurden und sie ihm letztes Jahr das Herz gebrochen hat (oder er sich selbst das Herz gebrochen hat, denn er hätte wissen müssen, worauf er sich einlässt). Aber ich ahnte nicht, dass er sie im Amt kennengelernt hatte. So wie er auch die andere ganz wichtige Frau in seinem Leben, Susanne, die Mutter seines Sohnes, als Hilfesuchende im Amt kennengelernt hat. Du bist also für H. von Anfang der Helfer und die gebende Hand gewesen, und so hat sie sich dann auch verhalten – sie hat dich in ihre Nähe gelassen, als sie dich brauchte vor zwei Jahren, und als sie dich nicht mehr brauchte, und weil deine gebende Hand inzwischen leer war, da war es vorbei – sage ich schlaumeierisch, als er heute Vormittag anruft und ich immer noch fasziniert bin von der Klarheit, mit der sich sein Muster zeigt. Als er darauf erwidert, dass man das so einfach nicht sagen kann, da habe ich es auf einmal eilig. Lass uns später noch mal telefonieren, ich muss jetzt gleich den anderen Blog schreiben. Und da, das sage ich ihm nicht, weil ich es in dem Moment noch nicht weiß, da wird es um mein Muster gehen, aber so, dass es mir richtig weht tut. Es beginnt ganz harmlos mit einer Korrektur zu dem Posting von gestern: Telefonieren – und dann bin ich auf einmal wieder mittendrin im Drama mit ihr – in meinem Drama mit ihr. Denn auch hier bitte unterscheiden: sie hat mir das Herz gebrochen – ich habe mir das Herz gebrochen.

Samstag, 23. April 2011

Telefonieren

Keine Tagezählung mehr. Das mit dem Frühling ist jetzt einfach so. Wie herrlich! Auch wenn einer nur Zuschauer ist, wie ich es war beim Liebespaar am Montag (Tag 29). Der Mann von dem Liebespaar kommt mir entgegen mit seinem Handy am Ohr  und wünscht mir im Vorbeigehen schöne Feiertage. Wünsche ich ihm auch und frage: Willst du nicht mit mir reden? Versteckst du dich vor mir im Telefonieren? – Könnte schon sein, dass er nicht angesprochen werden will von mir auf seine neue Liebe, wenn es eine ist. Und wenn es keine ist, wenn es nur ein singuläres Vollmondereignis war, erst recht nicht. Deshalb hätte ich ihn auch nicht darauf angesprochen. Aber da man bei mir nie wissen kann, ist er lieber auf Nummer sicher gegangen und hat das Telefon ans Ohr gehalten, als er mich kommen sah. Oder er hat wirklich telefoniert, am Ende noch mit der Frau vom Montag. Dann sind sie ein Liebespaar, dann geht es weiter. Und in ihrer Erinnerung wird der strahlende Sonnenschein und die Wärme und das frische Grün und das satte Gelb des blühenden Löwenzahns auf der Wiese vor der Kirche für immer verbunden sein mit den Anfängen ihrer Liebe. 24 GRAD IN BERLIN! WÄRMER ALS MALLORCA! (Schlagzeile gelesen auf der Goltzstraße). - Trotzdem sind viele weggefahren. Ich treffe niemanden, mit dem ich mich unterhalten kann, hätte auch nichts zu erzählen, denke nach über das Verstecken im Telefonieren. Neue Spielart von Verhalten. Möglich geworden durch Mobiltelefonie, Teilverwirklichung einer alten Idee von Kindern. Hand vor die Augen halten und nicht da sein für die anderen. Telefon ans Ohr halten und nicht ansprechbar sein. Überhaupt nicht ansprechbar sein oder erst mal sondieren was läuft und die Situation auf sich zukommen lassen. Hat sie auch gemacht, als wir einmal verabredet waren. Ja, wir waren schon mal verabredet. Dreimal sogar. Sie ist auch jedes Mal zu der Verabredung erschienen. Zu einem Treffen ist es jedoch in allen drei Fällen nicht gekommen. Einmal waren wir in einem Restaurant verabredet. Ich hatte schließlich nicht mehr erwartet, dass sie noch kommt, habe deshalb mein Essen bestellt und bin danach raus gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Da sah ich sie auf der anderen Straßenseite lang gehen, Handy am Ohr, telefonierend, also in ihr Telefon sprechend. Nicht auszuschließen, dass sie gerade einen Anruf bekommen hatte (von ihrem Freund? immer bedenken, den gibt es auch noch). Allerdings auch nicht auszuschließen, dass sie nur so getan hat, dass sie mit jemandem spricht. Sie hat (scheinbar) so konzentriert telefoniert, dass sie mich nicht gesehen hat, wie ich rauchend vor dem kleinen vietnamesischen Restaurant in der Akazienstraße stand. Damit sie mich hätte sehen können, hätte ich auf die andere Straßenseite gehen und ihr folgen - ihr hinterher laufen - müssen, mich vor sie hinstellen müssen und sie ansprechen. Was hätte sie dann gemacht? Mit ihrem Telefon am Ohr? – Natürlich ist es unverzeihlich und genauso bizarr wie ihr Auftritt, dass ich ihr nicht hinterher gegangen bin, und sei es nur, um herauszufinden, was sie dann gemacht und gesagt hätte – auch wenn es mir zu blöd war und ich die Nummer mit telefonierend auf der anderen Straßenseite vorbeigehen so gestört fand, dass ich dachte, was will ich mit so jemandem, der nicht in der Lage ist, hinein zu gehen in ein Restaurant zu einer Verabredung. Da war jedenfalls nichts mit Angst bei mir. Ich hatte gespannt darauf gewartet, dass die Tür aufgeht, sie hereinkommt, und egal, was sie gesagt hätte, oder auch wenn sie nichts gesagt hätte, wenn sie erst mal aus Vorsicht geschwiegen hätte, es wäre mir schon etwas eingefallen. Aber so hatte sie ihren Auftritt auf der anderen Straßenseite, sie ist gekommen zur Verabredung, hat sich dabei aber versteckt im Telefonieren und ich habe mich genauso gestört verhalten, indem ich mich - trotzig - stur -  nicht von der Stelle rührte und ihr nur hinterher geschaut habe, bis sie meinem Blick entschwand. 

Warum hat sie sich versteckt? Hatte sie da Angst? Vor was? Sich was zu vergeben? – Ist das auch meine Angst? Mir was zu vergeben? – Oder wollte sie es mir nicht so leicht machen? Wäre das zu einfach gewesen, in das Restaurant zu kommen und an den Tisch zu treten, an dem ich saß? Wollte sie die Szene so führen, dass ich ihr nachlaufen muss? Mich um sie bemühen. Für sie vielleicht ein ganz natürliches, instinktives Verhalten. Und meine Reaktion darauf genauso natürlich, auch instinktiv: Nein! Lieber keine Frau als eine Frau, die sich so verhält. – Das Kennenlerntreffen also schon im Ansatz gescheitert. Beim Aufeinanderzugehen, das ein Nicht-Aufeinanderzugehen war, hat es sich gezeigt, dass wir nicht miteinander können, weil wir nicht so wollen, wie der andere will. Und deshalb ist es gar nicht erst so weit gekommen, zusammen etwas zu wollen. Ende. Aber so ist es dann nicht gewesen. Es ist weiter gegangen. Es geht immer noch weiter.

Freitag, 22. April 2011

Eingeweide

Lieber Dani,
wie am Sonntag besprochen habe ich Deinen Film Das Leben ist zu lang angeschaut (auf DVD) und ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe, mich dazu zu verpflichten, über den Film zu schreiben. Wir sind entfernte Nachbarn, wir haben inzwischen Bekanntschaft miteinander gemacht. Daraus könnte mit der Zeit eine gute Bekanntschaft werden. Wir könnten zum Beispiel über amerikanische TV-Serien reden, wie im zweiten Teil unseres Gesprächs am Sonntag, und ich würde nie wieder das Exposé meines Schicksenplots erwähnen, das ich Dir zu lesen gegeben habe, aber Du bist nie dazu gekommen oder hast es verlegt oder Du hast es gelesen und willst Dich lieber nicht darüber äußern, weil Du Dir auch wünschst, dass wir gute Bekannte werden. Nachdem ich am Vorabend den ersten Teil Deines Filmes gesehen hatte, habe ich mich gefragt, ob ich es nicht auch so halten sollte. Denn, als ich mir Notizen über meine Eindrücke von dem Film machte, ist mir nur Negatives eingefallen: Ich habe in mehr als 50 Minuten nicht ein Mal gelacht. Statt Erzählen, das Verkaufen eines Erzählens. Er weiß zu genau, was er tut. Alles ist Absicht. Unbehagen dabei, weil mich das an all das Schlechte erinnert hat, was ich gemacht habe in meinem Bemühen mit meinen Komödieneinfällen beim Fernsehen Erfolg zu haben. Hausierengehen mit seiner Jüdischkeit mütterlicherseits, der halachisch relevanten, aber den jüdischen Humor, auf den er Anspruch erhebt, hat er nur ein Mal gehabt, in seinem Meisterwerk Alles auf Zucker, und sonst ist er Schweizer, und sagt man nicht, dass die Schweizer die perfekteren Deutschen sind, und Deutsche können nun mal keine Komödien, es sei denn, sie wandern nach Kalifornien aus und heißen Lubitsch? – Notizen zu einem Verriss. Den wollte ich nicht schreiben. Also gar nicht schreiben oder, wenn es stimmt, dass Dein Film nur Absicht ist, herausfinden, was ist die Absicht. Das, was Du meintest, als Du sagtest: Der Film hat was. Was? – Gestern Abend den Rest angeguckt. Ab der Stelle, an der Dein Protagonist Alfi Seliger seinen Selbstmordversuch macht. Mit einem Quantum Schlaftabletten, das für einen ausgewachsenen Eisbären reichen würde, bei ihm aber erst mal nur zu Blähungen führt. Da habe ich dann zum ersten und einzigen Mal gelacht, weil ich selbst manchmal ein großer Furzer bin (Seitenbacher Frühstücksmüsli). Gestern bin ich auch nicht mehr wegen Gelangweiltseins ständig von einer Sitzbacke auf die andere gerutscht wie am Abend zuvor. Denn ich war gespannt, weil ich jeden Moment damit gerechnet habe, jetzt kommt es gleich: das, worum es geht. Was der Film hat für Dich. Du hattest mir erzählt, dass Alfi gegen Dich als Macher des Films revoltiert. Ich hatte das so verstanden, dass er aussteigen will, den Film sprengt. Das wäre was! – So aber fuchtelt er einfach nur rum mit seiner Entdeckung, dass er eine Filmfigur, deine Marionette ist, und damit kriegst du eine neue Situation für den dritten Akt und die Möglichkeit zu einer flammenden Rede über Täuschung, Illusion, Künstlichkeit des Kinos. 24 mal pro Sekunde Künstlichkeit. Künstlichkeit. Wie kommt er eigentlich drauf, dass er nur eine Kunstfigur ist in einem Film und kein richtiger Mensch? Habe ich nicht mitgekriegt. Ich habe auch nicht verstanden, warum er sich umbringen will. Weil er sein Filmprojekt über die Mohamed-Karrikaturen nicht durchbringt so wie er es sich vorstellt? Oder ist es doch eher, weil seine Frau ihn verlassen will? Oder weil niemand ihn ernst nimmt und dazu noch sein Geld auf der Bank futsch ist wegen Bankenkrise. Oder bekommt ihm das viele Kiffen nicht? Und warum kifft der eigentlich? Kiffst Du noch in diesem Ausmaß? Oder kennst Du jemanden, der in unserem Alter und in diesem Beruf noch in diesem Ausmaß kifft, dass er in seinem vollgequalmten Jaguar durch die Stadt fährt, von einem Polizisten angehalten wird, und ihm auf die Frage, wonach es so komisch riecht im Auto, antwortet, das seien Beedies? – Ich habe dann etwas gemacht, was ich noch nie gemacht habe, mir den Audiokommentar auf der DVD angesehen. Angehört. Wegen Deiner sympathischen lockeren Art sehr gerne angehört. Ich hoffte, nachdem es mir im Film nicht klar geworden ist, würde ich es nun von Dir erfahren, worum es in dem Film geht. Und da hast Du mich zum ersten Mal überrascht auf dieser DVD. Du kommentierst den Anfang des Films, wenn man eine Grafik sieht und Alfi (Off), die Zuschauer auffordert. damit die Schärfeeinstellung ihres Fernsehgerät oder ihres Laptops zu überprüfen. Das habe ich beim Ansehen des Film selbst schon nicht verstanden – wie soll das funktionieren im Kino? Und ich habe es auch nicht verstanden, wie Du das meinst, wenn Du sagst, dieser Anfang mit dem Off-Kommentar von Alfi war vielleicht sogar der Grund, warum ich den Film gemacht habe. – Verflucht, habe ich da gedacht, ich kapiere es nie, ich werde es nie erfahren, worum es geht in dem Film. Aber dann kam es (ich gebe es komplett wieder, weil es ein offener Brief ist):
Es war ein sehr intuitives und eigenartiges Arbeiten am Drehbuch, weil das Drehbuch sehr stark aus meinen Eingeweiden und aus meinem Unterbewussten geschrieben wurde und es fast schon ein kindlicher Impuls war, überhaupt den Film zu machen. Und als ich mich darangesetzt und die ersten Seiten geschrieben habe, die mit diesem Audiokommentar begonnen haben, da habe ich gespürt, dass etwas ganz Elementares aus meinem Leben zum Ausdruck kommt und dass dieser Film etwas sehr Spezielles und Persönliches sein wird und völlig unabhängig von Erfolg, Misserfolg oder Kritiken oder was immer die Resonanz darauf ist – ein Film, der in mir selber stattgefunden hat und der für mich selbst gemacht werden musste.
Da habe ich den Mund nicht mehr zugekriegt, als ich das gehört habe, und habe mich in meiner aufdringlichen Neugier und in meiner bösartigen mäkeligen Art direkt angesprochen gefühlt. Erst beschämt. Dann aber auch gleich erleichtert. Ja, wenn es so ist, habe ich  gedacht, dann gibt es gar nichts zu verstehen. Dann bedanke dich nett bei Dani für den Einblick in seine Eingeweide und sein Unbewusstes und gib ihm die Adresse deines Blogs. Denn hier, Dani, mache ich jeden Tag das Gleiche. Und da weiß auch keiner so recht, worum es geht. Manche Leute mögen es, andere hassen es, vielen ist es egal. Gut oder schlecht, mein Leben.
Herzlichen Gruß
Wolfgang

Donnerstag, 21. April 2011

Ändern

Änderungsschneiderei Gecay
Seit 1987
Was wir nicht ändern können, ist nicht zu ändern!!!
Hauptstraße 11 (Ecke Vorbergstraße)
Mo, Di, Do, Fr 9 – 18 Uhr
Mi 9 – 13, 15 – 18 Uhr
Sa 9 – 13
Hosenboden einer Jeans verstärken: 8 Euro.
8 Euro?! Gleich, wie groß das Stück ist, das Sie einnähen müssen?
8 Euro.
Und wie lange dauert das?
Vor Ostern nicht mehr.
Und wenn ich die Hose am Dienstag vorbei bringe?
Donnerstag.
Zeigen Sie mir dann das Stück Stoff vorher, das sie einsetzen?
Wenn Sie möchten.
Und die Naht, die ist von außen sichtbar?
Das geht nicht anders.
Klar. Aber an der Stelle fällt das ja auch nicht auf.
(Nickt: so ist es)
Dann bringe ich die Hose am Dienstag vorbei.

Den Dialog hätte ich mal gestern haben sollen. Am besten gleich zu Anfang meiner Besorgungen. Wäre der Tag dann anders verlaufen? Hätte ich den Obst- und Gemüsehändler dann nicht unabsichtlich beleidigt, weil ich nicht so aggressiv gewesen wäre? Und wäre ich dann ins Gespräch gekommen mit ihr bei der Begegnung an der Rolltreppe, weil ich nicht mit den Gedanken beim Preisvergleich für Hosenbodenverstärken gewesen wäre und sie gleich erkannt hätte? - Beim libanesischen Obst- und Gemüsehändler hätte ich mich bestimmt weniger brüsk geäußert oder gleich ganz die Klappe gehalten. Und bei ihr? - Wäre es genauso abgelaufen wie es abgelaufen ist, weil es immer so abläuft, wenn wir uns begegnen.
Weil ich gar nicht mit ihr reden will? Weil ich nie mehr wollte, als sie anzuschauen und in sie verliebt zu sein?
Weil ich sie gar nicht kennenlernen will?
Müsste ich dann nicht erleichtert sein, wenn es wieder einmal nicht geklappt hat?
Bin ich das nicht auch?
Und warum bin ich dann jedes Mal so durcheinander hinterher?
Weil ich mir nicht eingestehen will, was mit mir los ist?
Dass ich gar nichts von ihr will?
Dass ich Angst vor ihr habe?
Warum sollte ich Angst vor ihr haben?
Finde es heraus.

Mittwoch, 20. April 2011

Durcheinander

Die polnische Schneiderin in der Eisenacherstraße sagt, sie will 15 Euro für das Einnähen eines Stoffstücks in meine Jeans, um den durchgewetzten Hosenboden zu verstärken. Ich sage, mehr als 10 Euro zahle ich dafür nicht. Ich hätte auch 13 Euro oder 13 Euro 50 bezahlt. Aber sie will nicht mit mir handeln. In drei Wochen geht sie in den Ruhestand. Sie ist mir mehr als 12 Jahre lang mit dem Preis entgegengekommen, sagt sie. Jetzt nicht mehr, das sagt sie nicht, aber so ist es. Am meisten ärgere ich mich darüber, dass sie nicht bereit ist, mit mir zu handeln. Ich wünsche ihr alles Gute und gehe zu der Änderungsschneiderei in der Hauptstraße. Kroatisches Ehepaar. Preis 14 Euro. Nicht verhandelbar. Das ist immerhin ein Euro weniger als bei der Kollegin. Ich sage, wenn ich niemanden finde, der es mir billiger macht, komme ich wieder. Der Mann sagt: Sie werden vielleicht jemanden finden, der es ihnen für fünf Euro macht, aber dann ist es auch so gemacht. Ich weiß, was er meint, und als ich den Laden verlasse, fängt die Aktion an, mir Spaß zu machen. Als nächstes werde ich in die türkische Änderungsschneiderei Hauptstraße/Ecke Vorbergstraße gehen. Doch vorher muss ich noch kurz zu Reichelt. In der Passage treffe ich Roland und habe mit ihm ein Palaver über das Hosenboden/Preis-Thema, das zu keinen neuen Einsichten führt, nur zu der Feststellung, was für ein schönes Wort Hosenboden ist. Nachdem wir uns verabschiedet haben, gehe ich zur Rolltreppe. Eine junge Frau kommt mir entgegen, die ganz in Dunkelblau gekleidet ist. Sie hat kurze dunkle Haare und ein blasses Gesicht, das mir bekannt vorkommt. Als sie an mir vorübergeht, schaut sie mich ernst an. Ich schaue ernst zurück und frage mich: Ist sie das? – Ich schaue ihr hinterher: War sie das? - Sie hat nicht gelächelt. Sie hat nicht zu erkennen gegeben, dass wir seit mehr als zwei Jahren auf eine merkwürdige Art miteinander zu tun haben. Ich habe sie erst auf den zweiten Blick erkannt. Ich habe nicht gelächelt. Ich bin ihr nicht hinterher gegangen. Es war so wie es immer gewesen ist, wenn wir uns begegnen. Ich kann es mir nicht erklären, warum es so ist. Danach bin ich mir sicher, dass sie es war, und bin verwirrt, wie ich immer verwirrt bin nach Begegnungen mit ihr. Es wird nicht besser dadurch, dass ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich kaufe bei Reichelt ein, habe im Tabakwarenladen mit der jungen türkischen Frau einen Dialog darüber, dass ab 1. Mai die Zigaretten 20 Cent teurer werden, und stehe anschließend bei der türkischen Änderungsschneiderei vor der verschlossenen Tür. Vielleicht ist der Schneider mal kurz um die Ecke gegangen. Ich hole mir bei Videoworld Danis Film, Das Leben ist zu lang, und gehe dann noch mal zurück zum türkischen Schneider. Immer noch geschlossen. Auf der Akazienstraße herzliche Begrüßungsszene mit dem Obst- und Gemüsehändler. Er erzählt, dass er im Libanon war und sich die Zähne hat machen lassen – und dass er geheiratet hat. – Eine Frau? frage ich. – Ja, sagt er und hält meine Frage für eine Albernheit. – Darauf sage ich ihm, dass ich ihn immer für schwul gehalten habe – und im gleichen Moment merke ich, dass ich dass zu einem Libanesen nicht sagen kann. – Ich bitte niemals um Entschuldigung; ich vermeide es etwas zu tun, wofür ich hinterher um Entschuldigung bitten muss, und zu dem, was ich getan habe, stehe ich. Jetzt bitte ich dreimal hintereinander um Entschuldigung: Das hätte ich nicht sagen sollen. Das hätte ich wissen müssen, dass ich das zu einem Mann wie dir nicht sagen darf, wiederhole ich mehrfach. Ich überschlage mich fast in dem Bemühen, die Beleidigung zurücknehmen. Für ihn war es eine Beleidigung. Es ist mir unbegreiflich, wie ich so taktlos sein konnte. Er nimmt meine Entschuldigung an. Es ist mir wichtig, dass wir uns die Hand geben. Er gibt mir seine Hand.  – In meiner Straße ein Feuerwehreinsatz. Bernd, der Raucher auf der Straße, steht dabei. Er hat die Feuerwehr gerufen. Mann im Parterre, gestern Abend hat er ihn gesehen: Er hatte den Tod im Gesicht, sagt Bernd. Heute hat sich nichts in der Wohnung gerührt. Die Schwester des Mannes hat sich auch Sorgen gemacht. Bernd und die Schwester haben beschlossen, die Feuerwehr zu rufen. Die Feuerwehrmänner öffnen mit einem gebogenen Draht das Fenster und steigen zu dritt über eine Leiter ein. Bernd erzählt, dass in dieser Wohnung schon mal ein Toter gelegen hat. 14 Tage lang. Der Gestank! Bernd wohnt auch im Parterre. Er sagt, er will das nie wieder riechen müssen. Die Feuerwehrleute, die durch das Fenster in die Wohnung eingestiegen sind, kommen zur Wohnungstür wieder heraus. Der Mann, der gestern Abend den Tod im Gesicht hatte, ist nicht da. Bernd ist konsterniert, weil er die Feuerwehr umsonst gerufen hat. Ich beruhige ihn: Lieber ein Mal zu viel als ein Mal zu wenig. Das werden die Männer von der Feuerwehr bestimmt auch so sehen. – Ich fange ein Gespräch an mit einem der Feuerwehrleute. Es kommt häufiger vor, dass sie gerufen werden und dann ist nichts. Das gehört zu ihrem Job, sagt er und fügt hinzu, dass es ihnen lieber ist, wenn nichts ist, als zum Beispiel einen Toten zu finden. – Hast du das gehört, Bernd? sage ich. – Bernd geht rein, um seinen Tabak zu holen. Zwei Mädchen, das eine vielleicht zehn, das andere vielleicht sieben, haben auf dem Bürgersteig stehend den Einsatz beobachtet. Das sieht süß aus, wie das kleinere und das größere Mädchen da stehen und fasziniert zugucken, was die Feuerwehrmänner machen. Sie stehen nicht im Weg. Und es wird auch keine Leiche herausgetragen, die sie mit ihren Kinderaugen nicht sehen sollen. Trotzdem: Als Bernd zurück kommt mit seinem Tabaksbeutel und den Zigarettenpapier in der Hand, herrscht er die Mädchen an: Geht mal weiter! – Ich sage zu den Mädchen: Er ist Lehrer. Aber jetzt hat er Ferien. Er hat euch gar nichts zu sagen. – Doch die Mädchen sind an den Lehrerton Bernds anscheinend gewöhnt und folgen ihm aufs Wort. Die Frage ist jetzt, wo der Mann hingegangen ist, der gestern Abend den Tod im Gesicht hatte. – Vielleicht zu einem Arzt? Oder ins Krankenhaus? – Nein, das macht er nicht. Der geht nicht mehr zu Ärzten, sagt die Schwester. - Vielleicht ist er in einen Park gegangen, sagt Bernd. – Und sitzt auf einer Bank und ist tot? frage ich und unterdrücke ein Lachen. Ich bin völlig durcheinander. Ich war schon vorher durcheinander.

Dienstag, 19. April 2011

Nein

Interview mit einem Bücherstapel. Der hat auf der Treppe vor einer Haustür gelegen: zum Mitnehmen. Ich bin stehen geblieben und habe mir die Bücher angeschaut. Fünf Bücher. Alles Lebenshilfebücher. Weitergegangen. Zurückgekommen, um die Titel der Bücher meinem Diktiergerät vorzulesen. Weitergegangen und dann noch mal zurück, um die Bücher mitzunehmen und ein Interview mit ihnen zu machen. Wer hat euch gelesen? Was ist das für eine Person? Was hat sie in euch gesucht und gefunden? – Oben auf dem Stapel liegt ein dtv-Taschenbuch: Peter Schellenbaum, Das Nein in der Liebe, 4. Auflage Juni 1987. Das bringt mich zu der Annahme, dass die Bücher einer Frau gehört haben. Die wird unterstützt durch zwei andere Titel, Paperbacks: Shere Hite / Kate Colleran, Keinen Mann um jeden Preis, März 1992. Und Colette Dowling, Perfekte Frauen. Die Flucht in die Selbstdarstellung. Deutsche Erstausgabe 1989. Diese beiden Bücher sind sichtbar gelesen, enthalten jedoch keine Unterstreichungen. Gelesen wurde auch das Paperback: Wolfgang Schmidbauer, Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe, 1. Auflage 1977. Die Erscheinungsdaten zeigen eine Frau, die nicht mehr jung ist. Sie arbeitet wahrscheinlich in einem helfenden Beruf, sie ist Krankenschwester oder Masseurin, Psychologin oder Fachärztin. Es könnte allerdings auch sein, dass sie die Hilflosigkeit der Helfer aus Patienten-Perspektive erlebt hat. Die Frau kann Englisch, sonst hätte sie sich das fünfte Buch nicht gekauft: Muriel James/Dorothy Jongeward, Born To Win. Transactional Analysis with Gestalt Experiments, erschienen 1978. Taschenbuch, ungelesen. Trotzdem erzählt das Buch etwas von seiner Besitzerin. Sie hat sich für Transaktionale Analyse interessiert. Aber wer hat sich in den 70er Jahren nicht für Psychotherapie interessiert? Ich zum Beispiel. Ich habe in meinem Leben auch nur zwei Lebenshilfebücher gelesen: Dale Carnegie, Sorge dich nicht – lebe! Der Titel hat mich angesprochen, weil ich mir immer so viele Sorgen mache. Das mit den Zitronen, aus denen man Zitronenlimonade machen soll, ist ein sehr guter Rat. Doch intuitiv war mir das immer schon klar. Und ich sorge mich immer noch. Das andere Lebenshilfebuch hätte ich mir auch sparen können: Werner Tiki Küstenmacher, Simplify Your Life. Beim Lesen ist mir nämlich klar geworden, wie weit ich mein Leben schon vereinfacht hatte und dass noch mehr Vereinfachung zu viel wäre.  – Zurück zum Interview, obwohl ich zugeben muss, dass es mich langweilt. Die Frau besaß, bevor sie die fünf Bücher aussortiert hat, mindestens drei Lebenshilfebücher mehr als ich. Das ungelesene Buch beiseite gelassen sind es Allerwelts-Bücher. Welche Helferin fühlt sich nicht manchmal hilflos? Wer hat es nicht manchmal satt, attraktiv erscheinen zu sollen? Und dass eine Frau sich von Männern nicht alles gefallen lassen will, ist nun wirklich einleuchtend, denn das ist umgekehrt nicht anders. Bleibt Das Nein in der Liebe. Auf der Innenseite des Umschlags steht handschriftlich mit schwarzem Kugelschreiber geschrieben etwas Gereimtes: Der Augenblick / Es war einmal ein Augenblick / der guckte unverfänglich / jetzt hat er lebenslänglich. Darunter steht: Fabel aus Hansens Haus und darunter eine zierliche Zeichnung eines Hauses mit qualmendem Schornstein und einer Hecke. – Die Handschrift ist eine Männerhandschrift. Auf der zweiten Seite ist ein Sticker eingeklebt: Ach, meine Liebste, Du steht auf dem Sticker und darunter ein dickes rotes Fragezeichen. – Eingeklebt, als der Mann mit dem schwarzen Kugelschreiber der Frau das Buch geschenkt hat? Dann allerdings nicht als neues Buch geschenkt; er hatte es bereits gelesen. Mit großer Zustimmung, wie die zahlreichen Kugelschreiber-Unterstreichungen zeigen und die Anmerkungen, die er gemacht hat. Vielleicht hat er die Anmerkungen sogar gemacht, damit die Frau sie später sieht. In seinen Anmerkungen nimmt er Bezug auf drei Personen: Karin und Bernd, die offenbar ein Paar sind, sowie auf Rainer und an einer Stelle auf Kurt Seitz jun. Zum Beispiel hat er unter die Kapitelüberschrift Die Selbstzerstörung des Stärkeren notiert: Kurt Seitz jun.Bernd + auch Karin. An zwei Stellen gibt es mit Bleistift geschriebene Anmerkungen in einer anderen Handschrift. Bauchige Buchstaben, Frauenhandschrift. Die Frau, die in den anderen drei von ihr gelesenen Büchern keine Anmerkungen gemacht hat, hier hat sie quer neben einen Absatz geschrieben: Schellenbaum ist toll!  (Schellenbaum ist der Autor). Und dann hat sie noch um die Kapitelüberschrift Abgrenzung ein Herz gemalt und daneben angemerkt: tut so weh! - Ja. Und genug. Denn jetzt komme ich mir wie ein Voyeur vor und schäme mich. Jetzt habe ich mehr von ihr gesehen, als ich sehen wollte.

Montag, 18. April 2011

Umarmung

Frühling Tag 29. Das Liebespaar an der Ecke. Schon von weitem gesehen, wie es sich umarmt. Große weiße Gestalt und eine kleinere. Als ich hinkomme, kenne ich die beiden auch noch. Na, ihr seid ja ein Traumpaar! sage ich und meine das so wie ich es sage. – Die beiden haben vorher schon aufgehört, sich zu umarmen. Ich komme trotzdem ungelegen. Besser, ich hätte das mit dem Traumpaar im Vorübergehen gesagt. Doch dazu kenne ich die beiden zu gut, um nicht wenigstens kurz bei ihnen stehen zu bleiben. Allerdings auch nicht so gut, um sie auf ihre frische Verliebtheit anzusprechen, die ihnen so anzusehen ist, wie man  es jemandem ansieht, der gerade aus dem Bett kommt. – Er fragt mich: Was machst du denn so früh schon unterwegs? – Da ich die beiden nicht stören will, fange ich keine Unterhaltung an, indem ich entgegne, dass es doch gar nicht so früh ist, auf jeden Fall nicht für mich (es ist etwa 8.30 Uhr). Ich murmele nur, dass ich vom Schwimmen komme und blicke dabei erst auf den dünnen langen weißen Mantel, den sie trägt, dann auf ihre schwarzen Plastikclogs und dann zu dem coyotenähnlichen kleinen Hund der Frau, der auf dem Bürgersteig hin- und her hastet und an den Platten schnüffelt. Und jetzt verabschiede ich mich auch schon: Ich kann jetzt gar nichts sagen. Lasst uns das alles beim nächsten Mal besprechen. – Das ist als so launig dahin gesagt in Ordnung, aber Quatsch. Denn es gibt nichts zu besprechen. Ich weiß auch so schon alles. Fast alles. Ich weiß, woher die beiden sich kennen: Pinguin Bar. Warum es gerade jetzt zwischen ihnen gefunkt hat: Frühling, Vollmond um 04:44:00 Uhr. Mit welcher Gemeinsamkeit sie sich näher gekommen sind: sie war mindestens zweimal für längere Zeit in Kanada, er war mindestens dreimal für längere Zeit dort. Im Sommer will er wieder hin, vielleicht für immer dort bleiben. Vielleicht planen sie schon, dass sie ihn begleitet, für immer bleiben nicht ausgeschlossen. Aber was wird dann mit dem Hund? Nehmen sie den mit? Wieder mit zurück? Weil sie den nämlich aus Kanada mitgebracht hat? – Im Winter habe ich mir das gedacht, als ich sie nach langer Zeit zum ersten Mal wieder gesehen habe. Da ist sie mit dem Hund zu Rossmann reingekommen und hat den Hund mit der Leine neben dem Eingang angebunden. Darauf hat sie aus ihrem Rucksack einen Napf herausgenommen, hat ihn vor den Hund hingestellt und aus einer Flasche Wasser in den Napf gefüllt. Wie eine Mutter für ihr Kind hat sie dafür gesorgt, dass der Hund alles hat, was er braucht, bevor sie in dem Drogeriemarkt ihre Einkäufe gemacht hat. Ach ja! Ist es jetzt doch ein Hund, habe ich mir da gedacht. Den hat sie bestimmt aus Kanada mitgebracht, wo sie einsam war in der Hütte, die sie wieder gemietet hatte wie bei ihrem ersten Aufenthalt. Und da ist ihr der Hund zugelaufen und von da an war sie nicht mehr alleine. Daher die Verbundenheit und das Umsorgen des Hundes wie das Umsorgen eines Kindes, das sie nicht hat und nun auch nicht mehr braucht. Sie war damals so konzentriert auf den Hund, dass sie gar nicht bemerkt hat, wie ich sie fasziniert beobachtet habe. Und ich habe sie nicht auf mich aufmerksam gemacht. So ist es bei den Vermutungen geblieben. Aber weil die Szene damals so einen Eindruck gemacht hat auf mich, habe ich mich heute sofort gefragt, wie es nun weiter gehen wird für den Hund, da er die Liebe der Frau ab jetzt mit dem Mann teilen muss. Denn dass das Liebe wird zwischen dem Mann und der Frau, das schien so.

Ohne Beziehung zur Umarmung des Liebespaares. Weil ich ihn am Wochenende entdeckt habe: James Blake. Song: Limit To Your Love . Cover-Version des Songs von Feist - (Lyrics hier): There´s a limit to your love/ like a waterfall in slow motion/ like a map with no ocean … und am Ende: All the trouble that you give me / I know, I know, I know / That only I can save me / I go, I go, I go / I´m down the road / Because there´s no limit to my love.

Like a map with no ocean!

Sonntag, 17. April 2011

Interessiert

Dani kommt aus dem Café Sur und stellt seine Augen hinter den Brillengläsern auf Unendlich. Geht es nach ihm, gehen wir aneinander vorbei, ohne uns zu beachten. Ich habe ihn nun aber mal bemerkt, also sage ich Hallo, er dann auch und dann frage ich, wie geht´s? – Gut, sagt er. Wir überqueren bei Rot die Beltzigerstraße und es gibt einen Moment betretenen Schweigens. Das kann daher kommen, dass er nicht weiß, mit wem er es zu tun hat, da er sich nicht daran erinnert, dass wir uns kennen, und ich also jemand sein könnte, der ihn anquatscht aufgrund seiner Bekanntheit als Dani Levy, Regisseur von Alles auf Zucker oder der Hitler-Komödie Mein Führer. Oder er weiß, wer ich bin, und befürchtet, dass ich ihn auf das Exposé des Schicksenplots anquatsche, das ich ihm vor knapp einem Jahr zum Lesen gegeben habe. Er wollte es auch lesen, wie er mir versichert hat bei unserer letzten Begegnung. Doch die ist nun schon ein Dreivierteljahr her. Und deshalb weiß ich auch so schon, dass es ihn nicht interessiert und frage: Ist das ein iPad, was du da hast? – Nein. Er zeigt mir, dass das, was er da unter dem Arm trägt, ein iBook ist. – Was machst du zur Zeit, frage ich, obwohl ich es weiß. – Ich schreibe gerade. – Er sagt mir nicht, was. Wir überqueren die Akazienstraße, an der die Ampel inzwischen auch Rot zeigt. In der WELT habe ich in einem Interview mit dir gelesen, dass du jetzt einen Kinderfilm machst. – Ja, aber der ist nach einem Roman. – Da gibt es die Geschichte schon, will er damit sagen. Wäre ich noch ein glückloser Drehbuchautor, würde ich jetzt spitzfindig darauf hinweisen, dass der Roman ja adaptiert werden. also zu einem Drehbuch umgearbeitet werden muss, um dann auf meine Erfahrungen mit der Adaption von Romanen zu sprechen zu kommen. So aber frage ich ihn: Wie ist eigentlich dein letzter Film gelaufen? – Nicht so toll, sagt er. Das habe ich mir gedacht und deshalb habe ich ihn danach gefragt. Doch immerhin: 120 000 Zuschauer in Deutschland haben Das Leben ist zu lang gesehen. Der Verleih hat sich mehr versprochen, meint Dani. – Aber 120 000, das ist für einen deutschen Film schon sehr gut, sage ich und bin überrascht, dass es so viele gewesen sind. Ein Flop ist das nicht. – An dieser Stelle sagt Dani zum ersten Mal: Der Film hat was. Auch wenn er nicht so ein Erfolg war, er ist zufrieden mit dem Film, weil: er hat was. – Ich habe ihn neulich mal bei Videoworld in der Hand gehabt und ihn dann lieber nicht mitgenommen, nachdem ich die Inhaltsangabe gelesen hatte, erzähle ich und erwähne noch, dass ich danach im Internet mir den Trailer angeguckt habe und ihn dann immer noch nicht sehen wollte. – Was ich nicht sage: Nach allem, was ich über den Film gelesen hatte, war ich überzeugt davon, dass es ein misslungener Film ist, und wollte ihn eben deshalb ansehen, um über ihn im Blog zu schreiben und mich damit an Dani zu rächen dafür, dass er mein Exposé nicht gelesen hat. Dann habe ich den Trailer angeguckt, mich bestätigt gefühlt in meiner Erwartung und das hat mir gereicht: ich wollte einfach nicht der Typ sein, der nachtritt. – Inzwischen hat Dani noch mal gesagt, dass der Film was hat, und jetzt guckt er betrübt, weil ich ihm zu verstehen gegeben habe, dass sein Film mich nicht interessiert. – Nun könnte ich an mein Exposé denken, das ihn nicht interessiert hat, und den Moment – ja was? Genießen? Stattdessen muntere ich ihn auf, indem ich sage: Jetzt musst du um mich als Zuschauer kämpfen. – Das tut er, indem er zum dritten Mal sagt: Der Film hat was. Um nun darauf zu sprechen zu kommen, was ihm so gut gefällt an Das Leben ist zu lang, was aber beim Publikum offenbar nicht so gut angekommen ist. – Dass du deine eigene Geschichte darin reflektiert hast? – Nein, so viel Eigenes ist da gar nicht dabei. Der Regisseur in der Geschichte, das ist nicht er. Es ist vielmehr so, dass der Regisseur im Film, die Hauptperson, sich gegen ihn als Dani Levy und Macher des Films stellt, dass die Hauptperson gegen ihn revoltiert. – Wie bei Woody Allen! In The Purple Rose of Cairo, wo ein Schauspieler aus dem Film (im Film) heraustritt. – Nein, nein, viel radikaler. Bei mir will der aus dem Film aussteigen und die ganze Geschichte platzen lassen. – Ach! Das hat in der Inhaltsangabe nicht gestanden und das kam auch im Trailer nicht vor, sage ich und denke mir, dass da sicher der Verleih dagegen war, dass das rausgestellt wird, weil das Publikum solche Spielereien nicht leiden kann. Mir gefallen solche Spielereien allerdings und ich deute an, dass mich sein Film nun vielleicht doch interessieren könnte. -  Wirklich? - Hat nicht Dani gefragt, frage ich mich jetzt. – Antwort: Wenn ich mir den Film anschaue, dann schreibe ich auch darüber. Fortsetzung dieses Textes. Fortsetzung unseres Gesprächs, indem ich Dani berichten werde, was ich mit seinem Film erlebt habe, nachdem es ihm schließlich doch noch gelungen ist, mich als Zuschauer zu werben.

Samstag, 16. April 2011

Geklappt

Die junge Frau im Tabakwarenladen überrascht heute mit einem großkarierten Kopftuch in den Farben des Frühlings. Und unser Dialog ist so, dass er, ohne nennenswert überarbeitet werden zu müssen, in ein Lehrbuch für einen Grundkurs Deutsch aufgenommen werden könnte.
Wie geht es Ihnen? frage ich, als ich an die Ladentheke trete.
Sehr gut, antwortet sie. Und wie geht es Ihnen?
Gut, antworte ich nach kurzem Zögern, weil ich es gewohnt bin, die Frage, wie es mir geht, deutsch, also nicht höflich zu beantworten mit einem formelhaften Gut, sondern zu sagen, wie es mir wirklich geht. Gut? – Nach kurzem Überlegen bin ich zu diesem Ergebnis gekommen. Was mich ein wenig überrascht hat, denn heute Vormittag war es noch unentschieden, ob es nicht gerade so weiter geht wie gestern.
Jetzt überrascht mich die junge Frau: Warum nur gut? will sie wissen.
Reicht gut denn nicht?
Die Sonne scheint. Es ist ein schöner Tag. Da muss es einem doch sehr gut gehen.
Ich schaue hinaus auf die Straße. Am Vormittag schien die Sonne. Inzwischen verbirgt sie sich hinter dichter Bewölkung. Da ich nicht widersprechen will, wechsle ich das Thema: Ich möchte eine Packung von den roten Indianer-Zigaretten, sage ich.
Sie gibt mir eine Packung American Spirit Rot. Ich bezahle mit einem Fünfeuroschein. Während sie 10 Cent aus der Kasse nimmt, sagt sie: Mir geht es auch deshalb so gut, weil ich heute ausschlafen konnte.
Schön, sage ich. Und morgen? Müssen Sie morgen wieder arbeiten?
Zum Glück dieses Mal nicht, antwortet sie.
Dann können Sie ja heute Abend mit Ihren Schwestern ausgehen.
Sie nickt und wundert sich vielleicht, wie ich darauf komme. Deshalb füge ich erklärend hinzu: Ich merke mir alles.
Damit spiele ich darauf an, dass sie mir letzten Sonntag erzählt hat, sie habe am Vorabend wegen des Arbeitens am nächsten Tag früh schlafen gehen müssen und infolgedessen nicht mit ihren Schwestern ausgehen können; was hart für sie gewesen sei.
Nachdem ich die Packung Zigaretten und das Rückgeld weggesteckt habe, verabschiede ich mich mit Tschüss.
Einen schönen Tag noch, wünscht sie mir. Und ich ihr auch.
Das hat heute richtig gut geklappt.

Freitag, 15. April 2011

Analyse

Klagen. Klagen. Klagen. Peter. Denken. Denken. Denken. Ich. Und das eine ist so fruchtlos wie das andere, sage ich zu ihm. Wir vertun damit unser Leben. Er, weil er sich so leid tut. Ich, weil ich es gerne aufgeräumt und ordentlich habe in meinem Kopf. Peter muss übernächste Woche für vier Tage in die Klinik zur gründlichen Untersuchung seines Knubbels. Sterben wird er daran so schnell nicht, das haben sie ihm heute schon gesagt. Nicht mehr lange, dann hat er auch seine Lebenskrise überwunden und dann wird das aufhören mit seinem Klagen. Und was mache ich? – Ich klage jetzt auch mal. Darüber, dass ich immer die gleiche Geschichte erzähle. Und die wird nicht interessanter durch wechselndes Personal. Denn – geht schon wieder los mit dem Analysieren – die Hauptperson ist immer die gleiche: das bin ich, der beobachtet, der sich was denkt, sagt, fragt, antwortet, erklärt, der sich was überlegt (denkt), der sich was vornimmt (denkt), der missverstanden wird, wen wundert es, und missversteht (denkt), es im Nachhinein erst merkt (denkt), und am Ende hat es immerhin was zum Schreiben gegeben, denkt er sich, aber es ist immer das Gleiche. – Keine Lust mehr auf den Denker. Keine Lust mehr auf seine Geschichte. Entweder es beginnt jetzt bald eine andere Erzählung oder ich höre auf.

Donnerstag, 14. April 2011

Geduzt

Skins. SPON verspricht das neue Serienwunder. Dieses Mal nicht amerikanisch, sondern britisch. Videoworld. Die drei ersten Staffeln von Skin gibt es. Aber Staffel 1, Disk 1 ist ausgeliehen. Hauptstraße. Die Leute nicht so genau angucken. Wenn die Sonne wieder scheint, werden die alle gleich viel besser aussehen. Und wenn jetzt nichts passiert, dann übernehme ich für das Posting heute den Text vom Vormittag aus dem anderen Blog. Tabakwarenladen. Es arbeitet die junge Frau, die ich gerne sehe. Bitte beachten! Nicht: Sie gefällt mir. Sondern: Ich sehe sie gerne. – Sie ist 21 Jahre alt. Also bitte! Heute hat die junge Frau ein weit geschnittenes graues Kleid mit Gürtel an, dazu wahrscheinlich eine schwarze Hose; darauf habe ich nicht geachtet. Im Winter hat sie einfarbige Kopftücher getragen. Seit letzter Woche trägt sie ein weißes Kopftuch mit einem großen Blumenmuster. Darunter ein schwarzes Untertuch, das bis über den Haaransatz gezogen ist. Das Untertuch fällt mir heute zum ersten Mal auf. Diese Kombination des weißen großgeblümten Kopftuchs mit dem schwarzen Untertuch sieht sehr elegant aus und ich suche ein Wort, eine Umschreibung dafür, während eine verwirrte Frau, die vor mir dran ist, etwas länger braucht: Verwegen elegant? Es hat einen verwegenen Chic? - Dass die junge Frau 21 Jahre alt ist, weiß ich vom letzten Mal. Da hat sie mich ihr Alter raten lassen. Vorher hatte sie erzählt, dass sie mit dem jüngeren der beiden Männer, denen der Laden gehört, zusammen aufgewachsen ist. Sie waren Nachbarkinder. In Kreuzberg. - Auf 23  habe ich sie daraufhin geschätzt. Und nachdem sie erklärt hatte, sie sei erst 21, habe ich gesagt, was der Wahrheit entsprach, keine Schmeichelei war: Wenn sie nicht zuvor erwähnt hätte, dass sie im gleichen Alter ist wie der jüngere der beiden Männer, dann hätte ich sie auf 18 geschätzt. – Da meinte sie: Mit 18 wäre ich sehr zufrieden gewesen. – Als käme sie sich mit 21 Jahren schon so alt vor, dass für 18 gehalten zu werden für sie ein Kompliment ist. – Bei diesem Gespräch hatte sie mich geduzt, während ich sie gesiezt hatte. Das ist mir hinterher aufgefallen und ich habe mir vorgenommen, das nächste Mal nicht so förmlich zu sein und sie auch zu duzen. Heute hat sie mich gesiezt. Darauf habe ich gesagt: Wir können doch du zueinander sagen. – Ja gut, hat sie geantwortet, mich dann aber zweimal kurz hintereinander gesiezt. Nicht betont gesiezt, aber eben zweimal kurz hintereinander und das war deutlich. Das erste Mal, als sie mich fragte: Was für Zigaretten nehmen Sie? Und das zweite Mal kurz darauf in einem Satz, den ich vergessen habe. Vergessen bestimmt auch, weil ich in dem Moment so dumm dastand, dass ich wortlos meinen Fünf-Euro-Schein hingelegt, die 10 Cent Rückgeld eingesteckt habe und nicht mal Tschüss gesagt habe im Rausgehen. Da hat sie bestimmt gedacht, ich sei beleidigt. Dabei habe ich mich nur geärgert über mich und meine Zutraulichkeit, die zu dem Fauxpas geführt hat, der in Wirklichkeit ein Missverständnis war. Aber wie hätte ich ihr das erklären sollen? Doch am besten, indem ich das Gespräch fortgesetzt hätte, um eine Gelegenheit zu bekommen, wieder zum Sie überzugehen, und ihr so zu zeigen, dass ich sie verstanden hatte und das völlig in Ordnung für mich ist, wenn wir uns siezen. Während ich zur Back-Factory gegangen bin und anschließend über die Akazienstraße nach Hause, habe ich mich darüber dann auch noch geärgert, dass ich darauf nicht gekommen bin. Bis mir eingefallen ist, dass ich gerade etwas erlebt hatte und ich jetzt über die gern gesehene junge Türkin in dem Tabakladen schreiben konnte.

Mittwoch, 13. April 2011

Mitmachen

Wie Leute sind. Wie Leute einen sein lassen. Leute, die wie im Fußball die Räume eng machen, die mit ihrem Defensivverhalten einen am Kombinieren hindern, das Spiel unterbinden. So einer ist der Kassierer nicht. Als ich meiner Frage vorausschicke, dass ich hypersensibel bin, sagt er, das bin ich auch. Und als ich ihn erinnere an den Moment am Montag, als ich mich verabschiedet habe im Hinausgehen und er so ernst und förmlich reagiert hat, da sagt er nicht, dass er sich daran nicht erinnern kann, weil: Wissen Sie, wie viele Leute jeden Morgen an mir vorbei gehen? Wie soll ich mich da erinnern, wie ich bei jedem Einzelnen geguckt und gegrüßt habe. – Er weiß es noch. Er versteht auch meine Frage, ob möglicherweise etwas gegen mich vorlag, weil er so streng geguckt hat, da er selbst bekennend hypersensibel ist. Und er bestätigt darauf, was ich für eine mögliche Erklärung gehalten habe: dass es an seinem Gesprächspartner und dem Gespräch gelegen hat, das er in dem Moment führte. Er habe sich mit dem anderen Mann nämlich gerade über die Krise des FC Bayern München unterhalten, sagt er. Damit macht er sich jedoch nicht lustig über mich, das mit Bayerns München hat er nur gesagt zur Auflockerung, bevor er mir erklärt, der Mann sei der Vorsitzende eines Saunaclubs gewesen, der sich über Missstände in der Sauna des Hallenbades am Sachsendamm beschwert hat, und er, der Kassierer, musste sich das alles anhören, obwohl er für den Zustand der Saunaeinrichtungen nicht verantwortlich ist. – Weil ich nun dringend ins Wasser musste, habe ich nicht nachgefragt, was ein Saunaclub ist. Das finde ich ein andermal heraus. Jetzt ist erst mal die Frage vom Montag beantwortet. Mein Verdacht hat sich nicht bestätigt. So bleibt nur noch die Frage: Was war mein Verdacht? – Ich weiß, dass mein Blog von Leuten im Hallenbad, Personal und Badegästen, gelesen wird. Darauf gibt es deutliche Hinweise. Darüber habe ich mich gefreut. Aber niemand hat mich dort je auf den Blog angesprochen. Wie mich auch sonst niemand auf den Blog anspricht. - Das kann natürlich daran liegen, dass ich mir die Hinweise nur einbilde, in Wirklichkeit jedoch niemand den Blog liest, wie jemand einwenden könnte, dessen Spiel es ist, die Räume eng zu machen. Aber aufgrund der Blog-Statistik-Funktion weiß ich, dass ich schon mehr Leser habe als die Handvoll Leute, mit denen ich über den Blog spreche. - Zunächst war mir das Stillschweigen der Leser in meiner Umgebung gerade recht, dann fand ich es merkwürdig, inzwischen finde ich es belastend. Weil aus dem Stillschweigen Heimlichkeit geworden ist, die ich mir zu eigen gemacht habe, ohne es zu wollen. Beispiel: Der hier schon mehrfach erwähnte Bernd - nicht Bernd, der Raucher auf der Straße, der Bernd vom Beckenrand. Kein Wort habe ich ihm je über den Blog gesagt, obwohl er regelmäßig darin auftritt. Die letzten vier Wochen ist er nicht mehr zum Schwimmen gekommen. Zuletzt habe ich mich gefragt, ob er vielleicht durch andere von meinem Blog erfahren hat und jetzt in ein anderes Hallenbad geht, weil er nicht will, dass ich über ihn schreibe. Einbildung? Wenn, dann nicht ganz unbegründet. Denn das kommt schon vor, und das ist nun zweifelsfrei, dass mir Leute aus dem Weg gehen, weil sie nicht von mir beschrieben werden wollen. Muss ich akzeptieren, auch wenn es bitter ist, wenn jemand sich dann gleich ganz von mir zurückzieht (Hediye!). Ich akzeptiere auch widerspruchslos, wenn Leute mir sagen, dass sie nicht wollen, dass ich über sie schreibe. Was allerdings noch niemand getan hat, denn die Leute reden ja nicht mit mir über meinen Blog. – Worauf will ich hinaus? – Die Heimlichkeit beenden. Die Nachfrage beim Kassierer heute Morgen war so ein Versuch. Mein Verdacht war, dass es ihm nicht recht gewesen sein könnte, dass ich das mit seinem toten Onkel erwähnt habe. Hätte er rumgedruckst heute Morgen, hätte ich ihn gefragt, ob das der Grund für seinen strengen Blick war. Offenbar war es das nicht. Und Bernd ist heute zum ersten Mal wieder zum Schwimmen da gewesen. Eine schwere Grippe hat er gehabt. Also war es Einbildung von mir, sein Fernbleiben auf mich zu beziehen. Aber nicht unbegründet. Ausgelöst von einem unguten Gefühl. Wegen der Heimlichkeit, die nicht gut ist. Sie ist auch nicht fair. Bernd soll wissen, dass ich über unsere Gespräche am Beckenrand schreibe. Mit diesem Wissen soll er sich überlegen können, was er mir erzählt – er soll sich aussuchen können, was ich über ihn schreibe. Er soll es mitgestalten können. Deshalb werde ich ihm die Blogadresse und dieses Posting mailen. Verstehe gar nicht, warum ich das nicht schon längst gemacht habe, ihm die Blogadresse zu geben. Heimlichkeit ist nicht meine Sache. Ich will die Leute nicht aushorchen und sie vorführen. Ich will, dass sie mitmachen. Freiwillig. Mit Freude daran.

Dienstag, 12. April 2011

Nachspiel

Im Lauf des Tages den Faden verloren. Faden war: Leugnen von Sachverhalten und damit jemandem anderen unterstellen, er habe sich den Sachverhalt nur eingebildet oder ihn konstruiert aus fragwürdigen Motiven. Sagen: Was du behauptest, das stimmt nicht. Und damit meinen: Es stimmt etwas mit dir nicht. – Verarbeitung des Gesprächs, das ich gestern hatte mit der guten Inge. Meine Sympathie für sie unverwüstlich. Daher sehe ich es nicht so grimmig. Ihr Leugnen auch nicht böswillig. Kein Lügen. Eher eine Art von kreativer Gedächtnisleistung. In einer Co-Produktion von Erinnern und Vergessen wird eine Begebenheit nachbearbeitet im Sinne von: dass nicht gewesen sein kann, was nicht gewesen sein soll.

Gestern wieder auf Peter eingeredet, dass er einen Blog schreiben soll. Nachmittags hat die junge Freundin, mit der es schon lange nichts Richtiges mehr war, ihn darüber informiert, dass sie einen neuen Mann hat. Bestimmt ein Arschloch, hat Peter hinterher zu mir gesagt, geweint hatte er auch schon und ihr geschrieben, dass er nun nichts mehr mit ihr zu tun haben will; nichts von wegen nur noch gute Freunde sein. Ich nun gleich wieder: Hör auf, ihr Mails zu schreiben. Fang endlich an mit deinem Blog. Das ist der ideale Moment dafür. - Ich dränge ihn, noch am Abend den Blog einzurichten. Blogger.com aufrufen und in 5 Minuten ist es passiert. – 22.45 Uhr ruft er an im Ton von Stell dir vor: Die wollen meine E-Mail-Adresse haben! Soll ich die denen etwa geben? – Heute Morgen vier Mails von ihm in meinem Posteingang. Er ist völlig durcheinander. Und ich habe schlechte Laune. Als er anruft, kriegt er sie ab. Ich beschwere mich über die vielen Mails an mich und über seine Abschiedsmail an die Ex-Freundin,, die er mir weitergeleitet hat: Ich hätte dafür alle Bäume der Welt ausgerissen, um dir … . Was für ein Kitsch, Peter! - Er sagt: Ich bin eben ein Prolet. – Ich sage: Mache es dir nicht so leicht. Fang endlich an mit deinem Blog. Und vergiss die Polnische. - So nenne ich seine Freundin, weil mir dieser Ausdruck so gut gefällt und ich nicht ihren richtigen Namen nennen will, da er so katholisch ist, und polnischer Katholizismus ist mir unheimlich. Dann hacke ich noch auf dem Foto von ihr rum, das Peter mir geschickt hat. Das ist ein sehr gutes Foto von einer sehr hübschen Frau. Nur leider völlig entstellt von deiner Fotoshop-Bearbeitung. – Er: Das ist nicht mit Fotoshop bearbeitet. – Ich: Peter, du hast mir mal gesagt, dass bei dir kein Foto rausgeht, das nicht mit Fotoshop bearbeitet ist. Kannst du dich nicht mal entscheiden, auf welchem Planeten du leben willst? - Da war der Tag trotz schlechter Laune noch ein guter Tag. Hinterher habe ich im anderen Blog über das Telefongespräch mit Inge geschrieben. Geglaubt, ich könnte daraus was lernen. Zu spät erkannt, dass es besser gewesen wäre, es beim Befremden zu belassen. Deswegen den Faden verloren. Den Tag verloren.

Inzwischen hat die Polnische dem Peter geantwortet. Er liest mir vor, was sie am Schluss ihrer Mail geschrieben hat: Die Welt ohne Bäume? Bitte nicht! Ich drück Dich! - Brillante Kitschkritik. Ich beschließe, sie nicht mehr die Polnische zu nennen, und rate Peter davon ab, den Kontakt mit ihr abzubrechen.

Montag, 11. April 2011

Griesgram

Alles gut? frage ich den Kassierer des Hallenbades, während ich mein Eintrittsgeld zusammensuche. – Sehr gut, antwortet er sinngemäß und freut sich offenbar mich zu sehen. – Und sportlich? – Mit meinem Arm geht es langsam wieder besser, sagt er und meint das als Witz. Denn er weiß schon, dass ich mit ihm über die neueste Entwicklung beim FC Bayern München sprechen will, dessen Fan er ist, dessen Fan ich auch jahrzehntelang war, aber inzwischen überlege mich mir, ob ich das mal ruhen lassen soll. Nicht, weil sie nächste Saison statt Champions League in der deprimierenden Europaliga spielen werden – ein wahrer Fan ist es auch dann noch, wenn es mal schlecht läuft. Da sind sich der Kassierer und ich einig. Nein, es ist wegen der unsympathischen Charakteraufführung des Präsidenten von Bayern München. Gleich, was fußballerisch richtig oder falsch war, es ist doch offensichtlich, dass der Präsident Hoeneß mit dem Rauswurf des holländischen Trainers fünf Spieltage vor Saisonende eine offene Rechnung beglichen hat, weil er sich von dem Größenwahn des van Gaal in seinem eigenen Größenwahn gekränkt gefühlt hat. Dem Kassierer geht es so gut, dass ihm das alles herzlich egal ist, und ich merke bei diesem ersten Dialog des Tages, dass ich aufpassen muss, weil ich scheine heute nicht der Hellste zu sein. In der Garderobe kommt mir der Griesgram entgegen. Er zieht eine dieser fahrbaren Kleiderbügelvorrichtungen hinter sich her, die es im Hallenbad am Sachsendamm gibt, damit man damit den Weg von der Umkleidekabine zum Spind zurücklegen kann. Er geht gerade vom Spind zur Umkleidekabine, trägt seine nasse Badehose und hat seinen Fahrradhelm auf dem Kopf. Das ist ein Bild, das habe ich schon oft gesehen, aber es bringt mich immer wieder zum Feixen. Der bis auf die Badehose nackte Mann, und dann Fahrradhelm auf. Klar, um die Hände frei zu haben. Trotzdem. Ich feixe und sage: Du siehst ja wieder aus!– Er grummelt darauf etwas, das ich nicht verstehe und dann ist da auch schon der lachende Mann mit seiner Entourage. Die drei Männer feixen auch wegen des Anblicks der Griesgrams. Abschließend zum Feixen stellt der lachende Mann fest: Nackt sind wir alle gleich. Obwohl ich gerade nicht der Hellste bin, werde ich spitzfindig im Sinne von: politisch ja, aber sonst? – Der lachende Mann präzisiert: Vor Gott sind wir alle gleich. – Ich lenke ein: Vor dem Tod sind wir alle gleich. – Der lachende Mann, hoch in den 70ern, will vom Tod nichts hören, sagt er und verweist darauf, dass das in der Bibel steht, dass wir vor Gott alle gleich sind. Das hat ihm seine Mutter vorgelesen aus der Bibel, als er noch ein Junge war. – Das ist eine schöne Vorstellung, dass die Mutter des lachenden Mannes ihm aus der Bibel vorgelesen hat, denke ich, während ich mich ausziehe und meine Sachen in den Spind hänge. Danach nehme ich mir vor, gegenüber alten Menschen nicht mehr so achtlos vom Tod zu reden. Denn so lange ist das bei mir auch nicht mehr hin, dass ich in einem Alter sein werde, in dem ich nicht unnötigerweise an den Tod erinnert werden möchte.

Der Griesgram ist auch schon in den 70ern, den frühen 70ern, und er ist von einem Hauttyp, der nicht anders denn als leichenblass bezeichnet werden kann. Sonst sieht man ihm sein Alter nicht an. Er ist drahtig und mit seinem Gesicht könnte er als Anfang 60 durchgehen. Er äußert sich stets mürrisch und abweisend; unmöglich, etwas zu sagen, dem er nicht widerspricht. Zu Anfang unserer Bekanntschaft habe ich mich noch darüber lustig gemacht, inzwischen habe ich großen Respekt vor seiner Griesgrämigkeit. Wegen der Konsequenz, mit der er sie auslebt, und weil sie ihn nicht daran hindert, auf seine Art freundlich und vergnügt zu sein. Im Winter musste er sich einer Prostataoperation unterziehen, wie er mir mal unter der Dusche erzählt hat. Danach habe er wie ein kleines Kind erst wieder lernen müssen, seine Blase zu kontrollieren, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. Ich habe darauf unwillkürlich auf sein blasses Genital geschaut und war erstaunt zu erfahren, dass man nach einer Prostataoperation nicht irreversibel inkontinent ist. Wenn man, wie der Griesgram, das Glück hatte mit computergesteuerter Laserchirurgie operiert zu werden. Ob seine Potenz dank Hightech die Operation auch unbeschadet überstanden hat, hätte ich gerne noch gefragt, habe es jedoch lieber gelassen. Denn obwohl wir uns seit Jahren in verschiedenen Hallenbädern treffen – gewissermaßen Sportkameraden sind –, legt er Wert darauf, dass wir uns siezen. Heute Früh habe ich ihn unwillkürlich geduzt, wie mir nachträglich erst aufgefallen ist. Da habe ich mir überlegt, dass ich dabei bleiben könnte, um mal auszuprobieren, wie er darauf reagiert. Kleines soziales Experiment. Ich werde darüber berichten.

Beim Verlassen des Hallenbades habe ich den Kassierer mit einem anderen Mann im Gespräch gesehen. Ich habe ihm zugewinkt und Tschüss gerufen. Er hat sich mir mit ernster Miene zugewandt und förmlich Auf Wiedersehen gesagt. Er, der sonst immer ein Lächeln für mich hat und eineinhalb Stunden zuvor noch mit mir gewitzelt hatte. Lag es an dem Gespräch, das er gerade führte? Oder liegt etwas gegen mich vor? In der Zwischenzeit hatte ich mir kein Fehlverhalten zuschulden kommen lassen. Aber vorher? In den letzten Tagen? – Das ist nun entweder mal wieder ein Fall von meiner Hypersensibilität, hat also nichts zu bedeuten, oder es ist interessant. Ich habe einen Verdacht. Dem werde ich nachgehen und auch darüber werde ich berichten.

Sonntag, 10. April 2011

Über

Frühling Tag 20/21. Notiz von gestern Abend: Der Nachbar macht auf sich aufmerksam. Mehrfach. Was will er? Mir zeigen, dass er da ist und mich damit fernhalten Dann würde ich an seiner Stelle es eher vermeiden, sich mir zu zeigen. Um mir keinen Anlass zu geben, mich mit ihm zu beschäftigen und damit auch gleich wieder mit seiner Freundin, der Nachbarin. Denn wie soll ich sie vergessen, wenn er mich ständig an sie erinnert?

Von heute: Und wenn er genauso verspielt ist wie seine Freundin? Wenn er sich mir nur deshalb zeigt, weil er will, dass ich weiter über ihn und über sie schreibe und darüber, wie ich sie nicht kriege und wie verrückt ich nach ihr bin? - Dann gibt es darauf zwei Antworten. Erstens: Dann gilt für ihn das, was auch für sie gilt - dann muss er mehr machen, als nur Präsenz zeigen; denn das Präsenzzeigen ist mehrfach durchgespielt und beschrieben. Zweitens: Ich bin nicht mehr verrückt nach ihr. Ich denke zwar weiterhin an sie und beschäftige mich mit ihr. Siehe, was ich am Dienstag geschrieben habe. Und hinterher habe ich mir noch lange Gedanken gemacht, ob sie das nicht missverstehen könnte mit dem Krampf, und mir am nächsten Tag überlegt, ob ich das aufklären soll, dass das kein Krampf war, der kam vom Denken an sie, sondern ein Schreibkrampf, den ich hatte beim Verfassen des Posts über das Mädchen. Ich war schon kurz davor, am Mittwoch darüber zu posten, um bei der Gelegenheit gleich auch noch zu schreiben über eine Erinnerung an sie, die mir an diesem Tag nicht aus dem Kopf ging und begleitet war von einem zärtlichen Gefühl für sie, bei dem ich mir gesagt habe, dass ich aufhören sollte, immer so hart zu sein, wenn ich sie erwähne in meinen Texten, dass ich die Härte, die ich gegenüber mir selbst zeige in meinem Bemühen, sie mir aus dem Kopf zu schlagen, nicht gegen sie wenden sollte. – Erinnert habe ich mich an einen Abend im April vor zwei Jahren, als ich sie mit dem Nachbarn auf der Akazienstraße gesehen habe. Er buchstäblich hoch erhobenen Hauptes neben ihr gehend, seine Nase so hoch tragend, dass er nicht mitgekriegt hat, wie sie sich nach mir umgedreht hat und mir über die Schulter einen Blick zugeworfen hat, der so war, dass er mir heute noch nachgeht. Jedes Mal, wenn ich in den vergangenen zwei Jahren aufgeben wollte wegen gerade einmal wieder erwiesener Aussichtslosigkeit meiner Bemühungen, da habe ich mich an diesen Blick erinnert und nicht aufgegeben. Ich hatte sie an dem Abend gar nicht gleich erkannt, da ich sie nur von hinten gesehen habe. Ich hatte beeindruckt auf zwei Beine geschaut, Beine in sehr edlen transparenten schwarzen Strümpfen. Dann habe ich hochgeblickt, um nachzusehen, wer diese schönen Beine hat. Und in dem Moment hat sie sich nach mir umgedreht und ich habe gesehen, dass sie es ist. Zu der Zeit habe ich sie regelmäßig zwei, drei Mal in der Woche beim Schwimmen gesehen. Ich wusste, dass sie Amerikanerin ist, und habe darüber gerätselt, was sie wohl beruflich macht. Botschaftsangestellte? Lehrerin? Erzieherin? CIA-Agentin und im Nebenberuf Profi-Killerin, weil der Geheimdienst so schlecht zahlt? An dem Abend hatte sie einen dunkelblauen Mantel mit Gürtel an, dazu die edlen schwarzen Strümpfe und formelle Schuhe mit kleinem Absatz. Der Mantel der Uniform-Mantel einer Flugbegleiterin? Vielleicht ist sie Flugbegleiterin, habe ich darauf gedacht. Würde auch zu ihr passen. Könnte gut sein. - Aber wenn sie damals Flugbegleiterin war, ist sie es jetzt nicht mehr. Sie hat ein Job-Problem. Und das macht alles komplizierter, als es sein sollte. Denn das macht aus dem Unglück ein Elend, weil es sie finanziell abhängig macht und unfrei. Ende Gedanken vom Mittwoch. - Ich habe es gelassen, darüber zu schreiben, weil ich dachte, es würde sich im Laufe der Woche schon noch eine Gelegenheit ergeben, das mit dem Krampf richtigzustellen, und die Erinnerung wollte ich lieber für mich behalten, weil ich im Erinnern nichts über sie erfahre. Das sollte ich nun aber endlich mal: wenigstens ihren Namen sollte ich in Erfahrung bringen und eine Vorstellung davon bekommen, wer sie ist. Das sollte doch möglich sein, dass ich das bald mal hinkriege, nach mehr als zwei Jahren herauszufinden, wie sie heißt, wer sie ist und wie sie ist. - Mit dem Risiko, dass es mir dann mit ihr vielleicht so ergeht, wie es mir mit H., der Freundin von Inge ergangen ist? - Nach allem, was ich von ihr mitgekriegt habe, ist das nicht zu befürchten: eine uninteressante, fade Person ist sie bestimmt nicht. Eher das Gegenteil. Zu interessant. Und zu – was ist das Gegenteil von fade? – Auf jeden Fall zu viel für mich. Mir über. Das könnte sein. Wie es auch sein könnte, dass sie dem Nachbarn über ist. Dass das der Grund ist, warum sie sich mit ihm langweilt. Wie sie sich vielleicht auch mit mir langweilen würde. Doch das ist keine Aussicht, die mich schreckt. Denn es wird nicht dazu kommen, dass sie sich mit mir langweilen wird. Wenn das möglich wäre, dann hätte es die Gelegenheit dazu schon gegeben. Nachdem es die Gelegenheit in zwei Jahren nicht gegeben hat, wird es sie auch nicht mehr geben. Wenn ich eine Chance hatte, dann habe ich sie vertan. Und weil ich das inzwischen eingesehen habe, bin ich nicht mehr verrückt nach ihr. Nur noch manchmal traurig, wenn ich an sie denke - und entschlossener denn je, endlich rauszukriegen, wer sie ist. - Fortsetzung folgt? Sicher bin ich mir dessen nicht. Denn siehe oben: Es könnte sein, dass sie mir über ist. Heißt: Wenn sie mir ihren Namen nicht preisgeben will, werde ich ihn nie erfahren. Aber wenn sie will, dass wir endlich miteinander bekannt werden, dann wird es der Nachbar auf Dauer nicht verhindern können.

Samstag, 9. April 2011

Aufmerksam

Frühling Tag 20. Eine Frau, über deren sexuelle Vorlieben ich informiert bin, als wäre ich schon mal dabei gewesen (ich übertreibe), sitzt vor der Feinbäckerei an einem Tisch mit drei Männern und grüßt mich freundlich, nachdem sie mich jahrelang nicht gegrüßt hat. Ganz zu Anfang unserer entfernten Bekanntschaft haben wir uns freundlich gegrüßt, dann hat sie nicht mehr zurückgegrüßt. Bis ich sie auch nicht mehr gegrüßt habe. Ohne mir vorstellen zu können, was gegen mich vorlag und so schwerwiegend war, dass sie unsere Grußbekanntschaft beendet hatte. Genauso wenig, wie ich mir nun erklären kann, weshalb sie auf einmal wieder grüßt, nachdem wir uns so lange nicht mehr gesehen haben, dass ich mir einen Augenblick lang unschlüssig war, woher ich sie kenne. Aus dem Kneipenleben, aus dem ich auch den Mann kenne, der sich anerkennend über ihre sexuellen Vorlieben ausgesprochen hat. Kann sein, dass es das nächste Mal, wenn wir uns sehen, schon wieder vorbei sein wird mit dem Grüßen, wenn sie das hier liest und sich gemeint fühlt. Daran wird sich zeigen, ob sie Format hat. Das mit dem Format ist ein Witz.

Mit einer Frau, die mir wegen ihrer stromlinienförmigen schwarzen Badekappe schon seit Jahren auffällt, habe ich vor ein paar Wochen zum ersten Mal kurz am Beckenrand gesprochen. Von da an haben wir uns jedes Mal, wenn wir uns im Wasser oder in der Garderobe begegnet sind, zugelächelt und zugenickt. Die letzten beiden Male hat sie ein verschlossenes Gesicht gemacht und meinen Gruß so verhalten erwidert, dass ich hinterher beim Verlassen der Garderobe zum Kassierer gesagt habe: Das ist für mich eines der großen Geheimnisse des Lebens, warum Leute, die einem bisher immer freundlich begegnet sind, es plötzlich nicht mehr tun, ohne dass es dafür einen erkennbaren Grund gibt. – Vielleicht jemand gestorben, sagte der Kassierer darauf, ohne eine Miene zu verziehen. Und nachdem ich aufgehört hatte zu lachen über seine Antwort, hat er mir erzählt, dass sein Onkel in Hamburg vor zwei Wochen tot in seiner Wohnung gelegen hat, und dass er, der Kassierer, nun die vom Onkel gewünschte Seebestattung organisieren wird. Danach habe ich mir erklären lassen, wie das im Einzelnen abläuft bei einer Seebestattung, und währenddessen kam die Frau, die beim Schwimmen eine stromlinienförmige Badekappe trägt, an uns vorbei und hat wieder ein verschlossenes Gesicht gemacht zu mir her.

Der Jura-Professor schreibt ein juristisches Fachbuch nach dem anderen und ich kann mir nicht erklären, wie er das schafft, weil er nämlich immer, wenn wir uns treffen, gerade aus Brasilien kommt oder aus Argentinien oder Japan oder aus einem afrikanischen Land und dort ein paar Monate gelehrt hat. Heute habe ich ihn vor Reichelt an der Rolltreppe getroffen mit seiner jungen Frau. Ich habe gesagt, dass ich dieses Mal schon weiß, von woher er gerade zurückgekommen ist, da ich vor zwei Tagen seine Frau getroffen habe und sie mir schon alles erzählt hat. – Dann ist ja schon alles gesagt für heute, hat er geantwortet mit seinem kleinen trockenen Humor. Darauf habe ich über die sich hinziehenden Bauarbeiten im Stadtbad Schöneberg in der Hauptstraße gesprochen, wo wir miteinander bekannt geworden sind und uns im Schwimmbecken jedes Mal mit einem solchen förmlichen Zunicken zu begrüßen pflegten, dass nicht viel fehlte, dass wir aufeinander zugeschwommen wären und uns die Hand gegeben hätten. Ich habe erzählt, dass ein mir auch vom Schwimmen bekannter Architekt erklärt hat, dass es aufwendiger ist und deshalb länger dauert, in ein bestehendes Gebäude hineinzubauen als ein neues zu errichten. Worauf der Jura-Professor meinte, das sei ja nun hinlänglich bekannt. Da das eine Art von brüsker Bemerkung war, wie ich sie auch jederzeit machen könnte, habe ich ihm das nicht übel genommen. Habe dann allerdings festgestellt, dass dieser Sachverhalt, so bekannt er sein mag, nun mal eine Erklärung für das Sichhinziehen der Bauarbeiten im Stadtbad Schöneberg ist. Wogegen er nichts einwenden konnte. Auch wenn er es gerne getan hätte, denn er war, glaube ich, schon etwas angefressen von meinem Eröffnungssatz, mit dem ich ihn von seinem Lieblingsthema abgehalten habe.

Vorher im Supermarkt hatte ich an der Kasse gestanden und es ging nicht voran. Da kam ein kleiner Junge her und sagte: Sie können auch an die Kasse nebenan gehen. Die ist geöffnet. – Das hatte ich nicht bemerkt, weil dort keine Warteschlange war. Der Junge ging darauf zurück zu der Kasse, wo die Kassiererin, die vorher kurz weg gegangen war, gerade wieder Platz nahm. – Du bist ja freundlich und aufmerksam, habe ich gesagt, als ich mich hinter dem Jungen anstellte, der schon mit dem Einpacken seiner Einkäufe beschäftigt war und keine Notiz mehr von mir nahm. Inzwischen war die Frau, die an der anderen Kasse vor mir gestanden hatte, auch hergekommen, und da ich mich gar nicht einkriegen konnte wegen der Freundlichkeit des Jungen, das bei ihm aber nicht loswerden konnte, sagte ich zu der Frau auf den Jungen deutend: Das haben wir ihm zu verdanken. – Sie nickte anerkennend, und als ich mit meinem Korb an ihr vorbei gehen wollte, um ihn auf den Korbstapel zu stellen, da nahm sie ihn mir ab und machte das für mich. Das Leben war so, wie es immer sein sollte. Kurz darauf habe ich den Jungen noch mal gesehen. Vor der Back-Factory. Er trug einen Fahrradhelm und sagte Tschüss zu mir, bevor er mit seinem Fahrrad losgefahren ist. Wie alt mag er sein? 12 Jahre wahrscheinlich. Als ich mir dann überlegt habe, warum ich mich so gefreut habe über das Verhalten des Jungen, da kam ich schließlich darauf, dass es sein könnte, dass ich auch einmal wie dieser Junge gewesen bin.