Donnerstag, 7. April 2011

Brav

Vorhin hat eine Frau, die es eigentlich hätte wissen können, nicht gewusst, wer Nicole Krauss ist. – Da wird es langsam mal Zeit, dass dein Kind erwachsen wird, damit du dich endlich wieder um die Weltliteratur kümmern kannst, habe ich gesagt. – Worauf sie: Ich habe ja auch schon die Kühlpads im BH. – Du kühlst deine Brüste? Wozu? – Um abstillen zu können. – Hört das nicht von alleine auf? – Nein, ich war deswegen jetzt zwei Tage lang richtig krank. – Wie lange hast du denn gestillt? – Zweieinhalb Jahre. – Warum so lange? – Na, mir hat es gefallen und ihm auch. - Gute Mutter, liebevolle Mutter. Da wird er mal ein zufriedener Mann und bestimmt kein Raucher, denke ich, behalte das aber für mich, weil man das so auch wieder nicht sagen kann. Peter raucht schließlich auch, obwohl ihn seine Mutter noch als er drei Jahre alt war, hat mittrinken lassen, wenn sie seinen kleinen Bruder gestillt hat. Auch eine gute Mutter, auch eine liebevolle Mutter. Hat ihn auch nie geschlagen, erzählt Peter immer wieder stolz. War auch nicht nötig. Weil er immer so brav und vernünftig war, wie ihm seine Mutter vor ein paar Tagen am Telefon vorgehalten hat. Vorgehalten! In ihrer Enttäuschung darüber, was aus ihm jetzt geworden ist auf seine alten Tage. Der ganze Sohn nur noch ein einziges Elend. Vielleicht schwer krank, vielleicht auch nur depressiv. Ohne Lebensmut. Ohne Hoffnung. Und dann auch noch die Schulden, die er angehäuft hat in seinem Leben. Tilgung und Zinsen, die ihm sein Gehalt auffressen, so dass es gerade noch für das Nötigste reicht und manchmal nicht mal für das. – Peter, Peter, Peter! Wo wir immer so stolz waren auf dich, hat die Mutter gesagt und nach dem Telefongespräch hat Peter Rotz und Wasser geheult. – Warum? Weil du nicht der brave Junge sein kannst, auf den sie so stolz war? - Ja. - Und das kannst du nicht, weil du dazu zu schwach bist im Moment? Krisenbedingt. - Ja. - Und das tut weh? - Ja.

Habe ich nicht wiederholt angekündigt, dass ich nicht mehr über Peter schreiben will? – Ist schwer, es nicht zu tun, denn was er gerade durchlebt ist spannend und allemal wert aufgezeichnet und verstanden zu werden. Aber ich kann das nicht. Es ist eine Geschichte, die für sich selbst steht. Wenn ich die schreiberisch begleiten wollte, käme ich zu nichts Eigenem mehr. Deshalb will ich Peter jetzt dazu bringen, seine Geschichte selbst zu schreiben und zu verstehen. Und helfen soll ihm dabei, dass er anfängt Morgenseiten zu schreiben. Drei Seiten jeden Morgen, handschriftlich, einfach drauflos, was ihm gerade durch den Kopf geht. Um so einen anderen, tieferen Zugang zu kriegen zu sich selbst und eine andere Art von Schreiben zu lernen, mit der er dann seine Geschichte schreiben kann. – Ich schreibe doch schon morgens meine E-Mails und die sind auch über mich, hält er dagegen. – Peter, das ist was anderes. Das ist Selbstdarstellung. Morgenseiten ist nur für dich, um mit dir ins Reine zu kommen, ohne Eitelkeit, auf die Formulierungen kommt es nicht an, es geht nur darum zu fassen zu kriegen, was in dir gerade vorgeht. – Und wenn ich das mache, dann mache ich als nächstes Tai Chi und hinterher schmiere ich mir die Kräutersalben, die Caro mir in den Kühlschrank gelegt hat, auf den Knubbel? – Peter, Morgenseiten ist nichts Esoterisches. – Tai Chi ist auch nichts Esoterisches. Aber das lasse ich mal lieber weg, um es nicht zu kompliziert und es seinem Widerstand gegen alles Neue nicht zu leicht zu machen. – Morgenseiten ist einfach nur eine Praxis, Peter, um Kontakt mit dir aufzunehmen. Wenn man schreiben will, gibt es kein besseres Training. Die Surrealisten haben das auch gemacht. Breton, Artaud, Eluard. 20er, 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Automatische Niederschrift (écriture automatique). Assoziatives Schreiben. Eine Technik, um mit dem Unbewussten Kontakt aufzunehmen.  – Ich bin so vertraut mit Peter, dass ich sogar sein Schweigen am Telefon deuten kann. Jetzt sagt sein Schweigen gerade: Wie schmeichelhaft für mich, dass du es so gut mit mir meinst. Aber das mache ich nie. Genauso wenig. wie ich mich im Morgengrauen auf eine Wiese stellen und Tai Chi machen werde. – Ich gebe auf. Ich merke auch, dass ich nicht überzeugend bin. Das zieht alles nicht, was ich da auf ihn einrede. – Heute Morgen fällt mir ein, was ich vergessen habe bei meiner Erklärung der Morgenseiten. Eine Orientierung beim Drauflosschreiben ist (kann sein, muss aber nicht sein) die Frage: Was will ich? Was will ich eigentlich? Was will ich wirklich? – Das habe ich gestern vergessen ihm zu sagen, dass es darum (auch) geht bei den Morgenseiten, herauszufinden, was man wirklich will.  Und dass das doch sehr lohnend wäre, wenn ihm das gelänge. Denn das gibt es doch nicht, dass er in seinem Leben nichts anderes will, als ein braver Junge zu sein.