Donnerstag, 28. April 2011

Marxismus

Abschiedsstimmung im Hallenbad heute Morgen. Einen schönen Sommer, wünscht der Kassierer. – Lassen Sie uns das mit dem Weinen am Samstag machen, sage ich. Da komme ich noch mal. – Danach ist bis Herbst am Sachsendamm für uns Frühschwimmer geschlossen. Wohin dann nächste Woche? Prinzenbad hat geöffnet ab dem Wochenende. Ist mir zu weit weg. Und bei den für Anfang nächster Woche vorhergesagten 12 Grad Lufttemperatur ist es mir auch noch zu kühl fürs Freibad. Also Hallenbad am Heidelberger Platz. Und ab Mitte Juni das malerisch heruntergekommene Freibad in der Forckenbeckstraße. Bei der Gelegenheit: Wann öffnet eigentlich das Hallenbad in der Hauptstraße wieder? – Im Herbst, sagt der Kassierer. - September?  - Sieht so aus. - Sicher? - Der Kassierer muss es wissen. Er meint, ja. - Hey! Natürlich nichts im Vergleich zum Sportbad am Sachsendamm. Aber dort im Stadtbad Schöneberg hat es angefangen. Mit ihr. Dort hatten wir - ich mit ihr - unsere glücklichste Zeit. Bis das Bad im Sommer vor zwei Jahren geschlossen wurde, weil das Wasser durch die Decken lief und der Rost schon begann sich durch die kühne Stahlkonstruktion aus den 30er Jahren zu fressen. Nun stehen die aufwendigen Sanierungsarbeiten kurz vor dem Abschluss und während ich noch einmal in einen Sonnenaufgang am Sachsendamm schwimme, habe ich einen Tagtraum von einem kommenden frühen Morgen im September: Es ist der erste Tag, an dem das Stadtbad Schöneberg wieder geöffnet hat. Frühschwimmen. Ich sitze am Beckenrand, kneife die Augen zusammen, weil mich das schräg einfallende Sonnenlicht blendet und fiesele die Gummibänder meiner Schwimmbrille auseinander. Da sehe ich aus dem Augenwinkel eine vertraute Gestalt sich am Beckenrad niederlassen: Sie. Wie sie nun ihre Beine übereinander schlägt und sich die Haare zusammenbindet. – Falsch. Nicht die Haare zusammenbindet. Nicht mehr nötig, da sie inzwischen kurze Haare hat. Also: Sie, wie sie ihre Badekappe über ihre kurzen Haare zieht und dabei zu mir herschaut. Mir zulächelt, was sie noch nie gemacht hat. Und ich lächle zurück und sage Hallo, was ich auch noch nie gemacht habe. Was wir nun aber machen – uns anlächeln und Hallo sagen, weil wir uns nach mehr als zwei Jahren wiedersehen an dem Ort, an dem wir uns eine Zeit lang mehrmals die Woche begegnet sind. – Ich betrachte sie von der Seite und sage: Wie schön, das wieder zu sehen. – Was? fragt sie. – Sage ich Sie oder Du? Ich glaube, ich sage Sie und werde mich später darüber wundern, dass ich sie gesiezt habe. Und ich werde hinterher froh sein, dass ich nicht zu ihr gesagt habe, was ich immer wieder gedacht habe, wenn ich sie am Beckenrand stehen oder sitzen sah, angestrahlt vom schräg einfallenden Sonnenlicht, und es nicht fassen konnte, weil es einfach zu viel war, und dann jedes Mal mich an den Satz erinnert habe: Wer sie im Sonnenlicht sah, der sah den Marxismus sterben. (*) Dieser Satz ist mir auch jetzt wieder durch den Kopf gegangen, Aber er ist nicht von mir und romantische Verklärung hat mir kein Glück gebracht. Bei ihr nicht und überhaupt nicht. Deshalb sage ich einfach nur:  Es ist schön, das wieder zu sehen, wie sie Ihre Beine übereinander schlagen und wie Sie sich ihre Badekappe aufsetzen. – Ach ja? sagt sie darauf. Ich lasse mich von ihrem schnippischen Ton nicht irritieren und sage dann noch: Nur ihre Haare können Sie sich jetzt nicht mehr zusammenbinden. Aber es war eine sehr gute Idee, dass Sie sich die langen Haare abgeschnitten haben. Die kurzen Haare passen zu Ihnen. – Da lächelt sie, nicht auszumachen, ob geschmeichelt oder so, als würde sie noch mal sagen: Ach ja? und dann gleitet sie ins Wasser und schwimmt los. Von da an sehen wir uns wieder zwei-, manchmal dreimal die Woche, wir werden uns grüßen, miteinander reden oder auch nicht, wir werden uns kennenlernen oder auch nicht. Doch gleich, wie es kommt, wir werden nie, mit keinem Wort erwähnen, was in der Zwischenzeit war, während das Stadtbad Schöneberg geschlossen hatte und saniert wurde, denn das ist eine zu wirre Geschichte, die uns da passiert ist.

(*) Harold Brodkey; Innocence: To see her in the sunlight was to see marxism die.