Sonntag, 8. Mai 2011

Verschweigen

Wieder nichts über den schönen Mann auf der Carl-Zuckmayer-Brücke, obwohl er an seinem Platz stand an der Brüstung. In einem blauen Sommerhemd. Im Gespräch mit einem Mann mit Basecap. Da hätte ich mich daneben stellen können, zuhören. Wollte ich nicht. Heute lieber über den Lacher vom Morgen schreiben: Werner Herzog und das Kuhmelken. Weiter gefahren. Ecke Innsbrucker Straße/Heylstraße. Feuerwehrauto auf dem Mittelstreifen. Im Hintergrund ein Rettungswagen. Feuerwehrmann raucht Zigarette.
Warum steht ihr hier mit laufendem Motor?
Um die Luft mit Kohlenmonoxid anzureichern, antwortet ein Feuerwehrmann aus dem Inneren des Fahrzeugs durch die offene Seitentür.
Ich will gerade seinen Ton aufgreifend fragen: Seid ihr deswegen gerufen worden? - da erklärt der rauchende Feuerwehrmann: Der Motor läuft wegen der Geräte im Wagen.
Die Frage war nicht so grimmig gemeint. Ich wollte damit nur ins Gespräch kommen mit euch, weil ich neugierig bin, was ihr hier macht.
Das dürfen wir Ihnen nicht sagen.
Ihr habt einen Einsatz gehabt?
Das kannst du ihm ja sagen, sagt der Kollege im Inneren des Fahrzeugs, der leider nicht der für mich zuständige Sprecher ist.
Sie müssen ja keine Namen nennen, ermuntere ich den Sprecher.
Wenn wir nicht gekommen wären, dann würde das Haus da drüben jetzt nicht mehr stehen, sagt der Sprecher und deutet mit einer Kinnbewegung zu dem Kastenbau schräg gegenüber.
Wie? Abgebrannt?
Es ist nichts passiert, weil wir rechtzeitig da waren.
Hat jemand was ankokeln lassen und ihr habt es gelöscht?
Gas! sagt der aufgeschlossener Feuerwehrmann.
Gasexplosion!? Habt ihr eine Gasexplosion verhindert?
Der Sprecher nickt. Und ich hätte nichts dagegen, wenn er jetzt mal kurz weg müsste und ich mich mit seinem Kollegen alleine unterhalten könnte.
Hat jemand den Gashahn aufgedreht, weil er sich umbringen wollte?
Der Sprecher macht ein verschlossenes Gesicht. Sein Kollege nickt.
Aber, sage ich und will sagen, dass das Haushaltsgas nicht giftig genug ist, um sich umzubringen. Doch da kapiere ich, dass es auch anders geht: Die Person wollte sich in die Luft jagen und das Haus gleich mit? frage ich.
Der Kollege nickt. Der Sprecher wirft seine Kippe weg und wendet sich blicklos von mir ab, um einzusteigen. Ich spüre Verachtung. Das kommt vor. Ich danke dem aufgeschlossenen Kollegen für die Antworten auf meine Fragen. Er lächelt und sagt Tschüs. Tür zu. Abfahrt. Der Rettungswagen hat sich auch in Bewegung gesetzt. Ich lasse ihn vorbei, bevor ich aufs Fahrrad steige und losfahre; der Fahrer dankt es mir. Vor dem Haus schräg gegenüber stehen zwei Polizeiautos. Polizeibeamte im Gespräch mit Zivilisten, wahrscheinlich Hausbewohner. Eine Ecke weiter, Voßbergstraße, ein Mannschaftswagen der Polizei. Davor zwei junge Polizisten, Frau und Mann. Hin zu den beiden: Ich bin neugierig, stelle ich mich vor. Darauf sage ich ihnen, was ich schon weiß, und frage, was sie bei dem Feuerwehreinsatz zu tun hatten.
Absperren, antwortet der Polizist. Wir mussten die Straße hier sperren.
Na, klar. Ich verziehe das Gesicht weil ich da nicht selbst drauf gekommen bin.
Das werden Sie heute Abend alles aus dem Fernsehen erfahren, beruhigt mich der Polizist.
Ich schreibe einen Blog sage ich. Ich will das exklusiv haben.
Der Polizist lächelt fein. Es ist nicht zu erkennen, ob er weiß, was ein Blog ist. Falls nicht, hat ihm ich schreibe  schon genügt, um seinen Ton zu ändern und nun offiziell zu verlautbaren: Wir haben die Straße gesperrt, weil Explosionsgefahr bestand, und jetzt warten wir auf neue Anweisungen.
Ich bedanke mich, wünsche noch einen schönen Sonntag. Während ich zurück fahre zu dem Haus, das jetzt auch als rauchende Ruine im Sonnenlicht stehen könnte, mokiere ich mich über meinen Satz: Ich schreibe einen Blog und hätte es gerne exklusiv. – Was exklusiv? Und wieso überhaupt exklusiv? Die Presse, das Fernsehen, die haben es doch auch. Klar haben die es auch. Ich sehe nur niemanden, der aussieht wie Presse oder Fernsehen. Sind vielleicht schon wieder weg. Ich könnte mich schief lachen über meine Ansage mit Blog und exklusiv. Aber mal nicht immer so streng sein mit mir! Wenn ich rauskriege, was ich wissen will, ist es doch egal, was ich für eine Figur dabei mache. In dem Fall habe ich mit meiner Wichtigtuerei allerdings das Gegenteil erreicht. Ohne die Ansage hätte ich mehr erfahren. Es noch mal versuchen? Bei den Polizisten und Zivilisten, die vor dem Haus stehen und reden? Entspannt wirken die. Gefahr abgewendet. Aufregung vorbei. So eine Szenerie. Denen möchte ich mich jetzt nicht zumuten. Ich fahre am schönen Mann auf der Carl-Zuckmayer-Brücke vorbei nach Hause. Über Polizei- und Feuerwehreinsätze bei Selbstmorden oder Selbstmordversuchen wird nicht berichtet, hat mir mal jemand gesagt, der es wissen muss. Damit nicht bekannt wird, wie viele Selbstmorde und Selbstmordversuche es gibt? Um niemanden zur Nachahmung anzuregen? Sind Leute so blöd? - Ja. - Spekulationen über die Motive der Person, die den Gashahn aufgedreht hat. Wollte mit größtmöglichem Krachwumm aus dem Leben scheiden? Wollte noch ein paar andere mitnehmen? War so verzweifelt, dass ihr das egal war? Hat sich zum Glück dumm genug angestellt, dass es nicht geklappt hat. Wenn die Person einsam war, ist sie es jetzt nicht mehr. Der Rest des Tages wird ausgefüllt sein mit Gesprächen mit Polizisten, einem Haftrichter oder einem Psychiater, dem Personal der Haftanstalt oder der psychiatrischen Einrichtung, in die sie gebracht wird, die Person.

Als die Feuerwehr abrückte, war es 15.10 Uhr. Im Polizeibericht Berlin: 14.00 Uhr Aufgebrachte Personen versuchen in Spätkauf einzudringen (Friedrichshain-Kreuzberg). 15.10 Uhr Fahrgast verletzt (Charlottenburg-Wilmersdorf). 15.15 Uhr Sachbeschädigung an Parteibüro (Treptow-Köpenick). 16.30 Uhr „Elendiges Hundeleben beendet“ – Polizei stellt Vierbeiner sicher (Neukölln). – Der Vorfall in der Innsbrucker Straße wird nicht gemeldet. Der Schweigekodex? – Und warum halte ich mich nicht an den? - Weil ich auf den Schweigekodex hinweisen will. Weil es gut ausgegangen ist für die Bewohner des Hauses und die Anwohner. Weil sich wieder einmal gezeigt, dass man es besser lassen sollte, wenn man nicht die Mittel und Kenntnisse dazu hat, sich selbst zu töten, ohne anderen damit zur Last  fallen oder sie sogar noch zu gefährden. Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass die mitleidlose Neugier, mit der ich auf den Vorfall reagiert habe, jemanden motiviert, es der Person aus der Innsbrucker Straße nachzumachen. Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass etwas besser wird, indem man es verschweigt.