Freitag, 10. Juni 2011

Fotoarbeiten 1

Zum ersten Mal ist er mir aufgefallen im Laden von Sülo und Sinan, als in der Eisenacherstraße zwischen der Wartburg- und der Grunewaldstraße Fernheizungsrohre verlegt wurden. Er stand gleich neben der Eingangstür mit einer Dose Red Bull in der Hand und während er sich mit Sinan und einem der Polizisten unterhielt, die zu den Stammgästen des Ladens zählen, blickte er immer wieder hektisch nach draußen. Hinüber zur Straßenbaustelle, nahm ich an und dachte mir, dass er zum Bautrupp gehört. In einer leitenden Funktion, weil er von Statur und Gesichtstyp und in seiner kurzen Militärjacke eher aussah wie ein Ingenieur als wie ein Schweißer oder Baggerfahrer. Dann war der Graben zugeschüttet, die Straße neu asphaltiert, der Bautrupp weitergezogen, aber er stand immer noch da, trank Red Bull, lachte mit den Polizisten, blickte zwischendurch hektisch zur Tür raus. Wohin? Hat der am Vormittag nichts anderes zu tun, der junge Mensch? Hängt hier im Tabakwarenladen rum, weil er arbeitslos ist? Und was guckt er denn immer so gehetzt nach draußen? Ist der nicht ganz dicht? - Manchmal stand er da mit einer Kapuze über den Kopf gezogen. Nicht ganz dicht. Andererseits: mit Sinan befreundet. So schlimm kann es dann nicht sein mit seiner Störung. Beobachtungen am Rande. Nie gefragt. Vor ein paar Wochen erst, während ich anstand, um mir meine Zigaretten abzuholen: Warum guckst du eigentlich immer so hektisch raus auf die Straße? - Antwort: Weil ich da drüben meinen Laden habe und gucke, ob Kunden kommen, antwortet er und noch bevor ich fragen kann, was für einen Laden und wo genau, greift er in die Tasche seiner Militärjacke und gibt mir einen Flyer: Bis zu 50 % günstiger. Batterie DISCOUNT. Varta Markenbatterien. … Sämtliche Gerätebatterien vorrätig! Und unten auf dem Flyer: Passfotos (auch im Hausbesuch). Pass- und Bewerbungsfotos, sämtliche Fotoarbeiten, Rahmen, Alben … . – Foto-Video Kaspar. Er ist Fotograf. Micha, nennt Sinan ihn. Michael Kaspar. Und ich bin schon mal in seinem Laden gewesen, vor fünf Jahren habe ich mir Passfotos für einen neuen Ausweis da machen lassen. Von ihm. Da hat er mich fotografiert. Es kann nicht anders sein. Denn er macht den Laden alleine. Vor elf Jahren übernommen von seinem Vorgänger. Die Geschäftserweiterung mit den Batterien, das war seine Initiative. Damit gleicht er den Umsatzrückgang bei den Fotoarbeiten aus, weil die Leute, wenn sie aus dem Urlaub zurück kommen, nicht mehr 10, 12 Filme zum Entwickeln anbringen, sondern digital fotografieren, und wenn sie ihre 1000 Fotos auf der Festplatte gesichtet haben, gerade mal vier oder fünf Vergrößerungen bei ihm machen lassen. – Und die Drogeriemärkte nehmen dir bestimmt auch einiges an Geschäft weg, oder? – Sieht er nicht so. Wem das reicht, was die an Qualität bieten, soll zu den Drogerien gehen. Wer mehr will, kommt zu mir.

Gestern Vormittag besuche ich Michael in seinem Laden. Kurz. Merke gleich, er hat zu tun, will nicht lange stören. Andere Situation als im Tabakwarenladen, wenn er dort seine Pause macht. Anderer Typ ist er hier. Sachlich, kein langes Gerede. Schnelle, knappe Auskünfte. Ein schlau aufgestellter Geschäftsmann, der an seine Kunden den Preisvorteil weitergibt, den er sich verschafft, indem er auch als Zwischenhändler tätig ist und somit beim Hersteller große Stückzahlen ordern kann. Bei all dem kundennah. Die alte Dame bringt ihr Hörgerät mit, wenn sie bei ihm eine neue Batterie kauft, er wechselt sie ihr aus, und die Dame erzählt ihrer Nachbarin, die auch ein Hörgerät hat, wie fix der junge Mann das hingekriegt hat. Und wenn die alte Dame mal Probleme haben sollte mit ihrem Hüftgelenk und nicht aus dem Haus kann oder bettlägerig ist und einen neuen Ausweis braucht und dazu Passfotos, dann kommt Michael zu ihr nach Hause und macht die Fotos da. 8 Euro 50 kosten Passfotos bei ihm, der Hausbesuch zusätzlich 10 Euro. Er ist einer der wenigen Fotografen in Berlin, die dafür ausgerüstet sind, um Passfotos machen zu können in der Wohnung oder in Krankenhäusern oder in Altersheimen – und vermutlich der mit dem günstigsten Preis. In Reinickendorf gibt´s einen, der verlangt mehr als doppelt so viel (40 Euro) für den gleichen Service. Kommt allerdings schon mal vor, dass Michael einen Zuschlag berechnet - wenn er mehrere Fotos machen muss, weil der alte Mensch im Bett gerade ein schiefes Gesicht gezogen oder komisch geguckt hat. Denn Vorschrift bei Passfotos ist: Neutraler Gesichtsausdruck. Kein Lächeln. Blick geradeaus. Augen geöffnet. - Bei sehr alten, kranken Menschen nicht immer leicht, das hinzukriegen, und manchmal geht es gar nicht. Mann in den 90ern kneift die Augen zu in dem Moment, als Michael gerade abdrücken will. Seine Enkel sind dabei und die sagen, das kann sein, dass der Opa die Augen die nächsten 30 Minuten nicht mehr aufmacht. Was jetzt machen? Da hat er den Mann eben mit Augen geschlossen fotografiert und der Kontaktbereichsbeamte musste hinterher denen auf dem Amt klar machen, dass von dem alten Herrn kein anderes Foto zu kriegen war. – Kontaktbereichsbeamter (KOB). Jetzt klärt sich auch auf, weshalb ich Michael so oft im Gespräch mit Polizisten gesehen habe im Tabakwarenladen. Die sind alle Kontaktbereichsbeamte und bei seinem Hausbesuch-Service die Vermittler. Denn an sie wendet sich der alte Mensch in seiner Ratlosigkeit, wenn die Behörde ihm mitteilt, dass sein Ausweis abgelaufen ist und er einen neuen braucht. Wozu eigentlich, wenn er das Haus nicht mehr verlassen kann und seine Wohnung, wenn dann im Sarg verlassen wird oder im günstigsten Fall auf einer von Sanitätern getragenen Bahre? Das kann der KOB dem alten Menschen dann zwar auch nicht erklären, aber er vermittelt es, dass Michael zu einem Hausbesuch kommt wegen der Fotos, und kümmert sich auch um alles andere, was nötig ist, damit der alte Mensch, wenn er eines Tages die Augen nicht mehr öffnet, einen gültigen Ausweis hat. - Kontaktbereichsbeamte. Ich würde zu gerne wissen, worüber Michael mit denen spricht und was die so alles zu erzählen haben. Doch ich will ihn nicht länger von der Arbeit abhalten und nehme mir vor, so bald wie möglich einmal den für mich zuständigen Kontaktbereichsbeamten kennenzulernen. Kommendes Thema. Fortsetzung folgt.
Foto-Video-Kaspar
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Grunewaldstr. 72 / Ecke Eisenacher Str.
10823 Berlin
Tel. 78 71 64 43