Sonntag, 3. Juli 2011

Dokumentarisch

Wegen des scheußlichen Regenwetters gehe ich nicht in die Lindauer Straße, um mir das Haus Nr. 7 anzusehen und den Hauseingang, den Karina Pośpiech gestaltet hat mit einer Dokumentation der Geschichte des Hauses (*). Ihren Film über polnische Putzfrauen in Berlin wollte sie mir nicht zeigen, denn der ist ohne Ton. Er war Teil einer Installation, die sie im Bethanien aufgebaut hatte. Zum Film gab es die Lesung eines von einer Schriftstellerin verfassten Textes, von der Decke hingen Moebiusbänder, zusammengesetzt aus Vergrößerungen von Filmbildern. Den Film über ihre Wohnungsnachbarin, eine über 90jährige Frau, die kurz nach der Präsentation des Films gestorben ist, den hat sie mir gezeigt, auf ihrem Apple-Notebook. Sieben Minuten lange Videoarbeit. Eine Passage durch das Fotoalbum der alten Dame, in der man sie aufwachsen, jung sein sieht, erblühen, reifen, älter und zu einer Greisin werden, die am Ende des Films mehrmals sagt: Wenn man alt ist, versteht man alles. Es gibt noch einen zweiten Film über die Nachbarin mit einem Interview mit ihr. Den wollte Karina mir auch zeigen, aber da habe ich gesagt: Ach, lassen Sie uns lieber noch ein bisschen reden. Denn da war es schon kurz vor 14 Uhr. Wir saßen seit 12 Uhr zusammen und sie hatte sich darauf eingestellt, dass wir nicht mehr als zwei Stunden brauchen würden für unser Gespräch. Knapp bemessene Zeit. Karina Pośpiech gibt ausführliche Antworten. Sie hat viel zu erzählen und ich habe ihr gerne zugehört und ihr viele Fragen gestellt.


3 x drei- Autobahn in Warschau
Acryl Siebdruck auf Leinwand, 150x210, 2006

Karina ist aufgewachsen in Polen, im Kohlerevier des ehemaligen Oberschlesiens. Hindenburg hieß ihre Heimatstadt, als sie noch deutsch war, seit 1945 heißt sie Zabrze. Karinas Vater war Pole, ein Bergmann, der sich hochgearbeitet hat zum Angestellten, Beauftragter für Arbeitssicherheit; in seiner Freizeit hat er gemalt, mit Ölfarben. Karina hat oft neben ihm  gestanden und ihm zugeschaut dabei. Die Mutter Deutsche, ihre Familie großbürgerlich, nach dem Ersten Weltkrieg verarmt. Die Mutter hat in einem Erziehungsheim für Mädchen gearbeitet. Jugendliche Straftäterinnen. Karina hat ihre Mutter dort ein paar Mal besucht und da hat sie die Mädchen gesehen mit ihren kahlen Köpfen, die ihnen rasiert worden sind bei der Aufnahme ins Heim. Die Eltern geschieden. 1977 ist Karina in Begleitung ihrer Mutter mit einem auf zwei Wochen befristeten Visum nach Deutschland gereist zur Großmutter in Wuppertal und dort geblieben. Da war sie 15. Nach dem Abitur Studium der Architektur an der UDK in Berlin. Abschluss 1991 mit einem Entwurf für ein europäisches Zentrum in Warschau. Damit war sie ihrer Zeit weit voraus, denn in Europa hat sich in Polen damals noch niemand gesehen. Danach hat Karina in Architekturbüros gearbeitet, in ihrer Freizeit gemalt. Ab 1994 ihr erstes eigenes Atelier. Künstlerisch gearbeitet, zugleich immer die Absicherung gesucht im Gewerblichen. Ein Versuch von ihr, beides zu verbinden, die Tätigkeit als Bühnenbildnerin. Arbeiten unter anderem für Hans Neuenfels; aber der streng hierarchische Opern- und Theaterbetrieb hat ihr nicht gepasst. Zurück ins Atelier, wo sie bald erkannte, dass das nicht ihre Sache ist, das abgeschiedene, auf sich selbst bezogene Arbeiten. Deshalb immer wieder raus aus dem Atelier. Sie will sich austauschen, will mit Menschen arbeiten, sich mit anderen vernetzen in Projekten. Foto-Dokumentationen, Filme, Installationen. Ihre Themen: Polnische Putzfrauen. Ein verlassener Bauernhof in Polen, den sie entdeckt bei einem Verwandtenbesuch. Polnische Obdachlose in Berlin. Hässliche, harte Welten. Ein Stall, in dem ein Kronleuchter von der Decke hängt. Ein auf einem Stahldorn aufgespießtes Schwein. Die Trostlosigkeit von Stadtansichten. Beim Betrachten eines monochromen Siebdrucks, der eine Stadtautobahn zeigt, suche ich den Namen eines polnischen Filmregisseurs. Jetzt erst fällt er mir ein: Krzysztof KieślowskiEin kurzer Film über das Töten. Und: Ein kurzer Film über die Liebe. Filme, die für mich zum Inbegriff des Ostblockigen wurden. Aber: die Wahrhaftigkeit! Und: die Entblößung des Menschlichen!


Autostrada in Warschau 1. Teil
Siebdruck auf Papier 2 Teile 70x100

Im Vorgespräch am Telefon hatte Karina gesagt, dass sie sich als Polin fühlt, als polnische Berlinerin. Darauf spreche ich sie jetzt an. Wie kann das sein, da sie doch die längste Zeit ihres Lebens in Deutschland verbracht hat? Sie antwortet, dass das etwas mit ihrem Charakter zu tun hat. Sie ist ein sehr emotionaler Mensch und sie verbirgt ihre Gefühle nicht; sie geht aus sich heraus, wenn es sein muss auch heftig. Und sie hat einen starken Freiheitsdrang. Sie kann sich nicht unterordnen. – Mit diesen Eigenschaften ist sie immer wieder angeeckt in ihrem Leben in Deutschland und kam sich fremd und außenstehend vor. Und dann ist sie zum ersten Mal als Erwachsene nach Polen zurückgekommen und hat erlebt, dass dort alle so sind wie sie. Da war sie auf einmal keine Außenseiterin mehr. Dort war sie, so wie sie ist, eine von Vielen. – Da habe ich es verstanden, warum sie sich als Polin fühlt und mir gedacht: Wie schön muss das für sie gewesen sein, diese Entdeckung zu machen. So etwas würde ich auch gerne mal erleben. Wenn auch nicht gerade in Polen.  


Autostrada Warschau 1991
Siebdruck auf Papier 70x100, 2007

Hier das YouTube-Link (*) zu ihrem Handyfilm: THE WORLD YOU WANT TO LIVE IN. Handyfilm heißt, dass als Kamera und für die Tonaufnahme ein Mobiltelefon benutzt wurde. Ein iPhone. Der Titel bezieht sich auf einen Graffiti, der gegen Ende des 5ninütigen Films im Hintergrund an einer Hauswand zu erkennen ist: I FUCK THE WORLD YOU WANT TO LIVE IN!!!  Davor der Mann mit der Mundharmonika, der sich beim Spielen ein Transistorradio ans Ohr hält und dabei auf eine Art spastisch herumtänzelt, dass ich mich auch beim dritten Ansehen nicht entscheiden kann, ob ich das lustig finden oder ihn bedauern soll. In diesem Kontext fällt mir die Formulierung empfindungsloses Draufhalten ein, die mir vertraut ist als Selbstkritik bei manchen meiner dokumentarischen Aktionen. Das emotionale Zentrum des Films ist ein anderer, ein jüngerer Mann. Karina schafft es, in 5.10 Minuten seine Lebensgeschichte zu erzählen. Zu Anfang des Films gibt es einen Moment, in dem er sich so schämt für sein Elend, dass er nicht mehr weiter sprechen kann und sich weinend abwendet. Und trotzdem, sagt er am Ende des Films, will er nicht mehr zurück in sein früheres Leben: zurück nach Polen und zu seinen Kindern, die bei seiner Mutter leben. Aus dem Off fragt Karina ihn, warum er nicht zurück will. Worauf er antwortet: Wissen Sie was? Das kann ich Ihnen nicht erklären!

(*) Website Hausportrait: Schönthaler ist der bürgerliche Name Karinas, Pośpiech ihr Künstlername.
(**) Offizieller Webstandort: EXPERYMENT DE-PL.
Korrekturen falscher Angaben im ersten Absatz des Textes siehe TrivialBerichtigungen Dokumentarisch