Donnerstag, 28. Juli 2011

Verschleiert

An der Fußgängerampel vor der Commerzbank steht eine Person, mutmaßlich weiblich, die trägt ein bis zu den Knöcheln reichendes, weites schwarzes Gewand und ihr Kopf ist vollständig verhüllt von einem blickdichten schwarzen Tuch. Das Tuch und das Gewand sind nicht improvisiert; es könnte sein, dass sie authentisch – das Gewand einer orientalischen Frau sind. Aber das ist nicht sicher. Deshalb geht von der Gestalt etwas Bedrohliches aus. Alles kann passieren, wenn jemand in einer solchen Vermummung auftritt an einem Mittwochabend gegen 19 Uhr in der Hauptstraße in Schöneberg. Es könnte sein, dass die schwarz verhüllte Gestalt, nachdem es Grün geworden ist und sie die Straße überquert hat, ganz nah an mir und meiner Gesprächspartnerin vorbeigeht, uns dabei streift mit dem Tuch ihres Gewandes und das war es dann für uns. Diese Assoziation haben wir beide, die Frau mit der ich vor dem Kochhaus stehe und ich: dass die Gestalt aussieht wie eine Verkörperung des Todes aus einem alten Schwarzweißfilm. Abend der Gaukler zum Beispiel. Noch während es mich gruselt, denke ich, dass die verhüllte Gestalt wie eine Illustration des Gesprächs ist, das die Frau und ich gerade führen: Ihr kann das nicht passieren, was dir mit mir passiert ist, sage ich mit Blick auf die schwarz verhüllte Gestalt. Sie hat die vollkommene Kontrolle darüber, wie sie erscheint. Wer sie beschreibt, kann über sie gesichert nur aussagen, dass sie verhüllt ist und das in Schwarz. Alles andere ist Unterstellung, Projektion, Phantasie und geht die verhüllte Person nichts an. – Ich sage das zu der Frau, weil sie sich zuvor bei mir darüber beschwert hatte, dass ich sie in meinem Blog habe auftreten lassen. Wir hatten uns zufällig getroffen beim Überqueren der Hauptstraße, waren auf der Verkehrsinsel in der Mitte der Straße stehen geblieben und das Erste, was sie gesagt hat, war: Ich will das nicht, dass du über mich schreibst. Ich habe geantwortet: Akzeptiert. Dann kann ich jetzt aber auch nicht länger mit dir hier stehen bleiben. Denn ich schreibe über mein Leben. Und wenn du nicht willst, dass ich über dich schreibe, dann darfst du nicht in meinem Leben vorkommen. - Das wollte sie nun aber auch wieder nicht. Sie hat mir ihre Gründe erklärt und nach einer Weile wurden wir beide ganz wuschig vom Stehen auf der Verkehrsinsel inmitten des abwechselnd beschleunigenden und anhaltenden Autoverkehrs, und deshalb sind wir auf die Straßenseite vor dem Kochhaus gegangen. Dort hat die Frau schließlich einen Grund für ihre Beschwerde genannt, der mir eingeleuchtet hat: Beschrieben werden heißt, festgelegt werden auf einen Eindruck. Und das will sie nicht, hat sie gesagt. Denn sie ist jemand, der an sich arbeitet. Sie will jederzeit den Eindruck, den andere von ihr haben, korrigieren, und wenn nötig, komplett verändern können. – Also übermalen und neu anfangen wie ein Bild, habe ich ergänzt, um ihr zu zeigen, dass ich sie verstanden hatte. Die Frau ist Malerin. Ich hätte sie gerne als Künstlerin der Woche vorgestellt. Aber da sie sich nicht gleich hatte entscheiden können, ob sie das will, habe ich Kontakt mit Ab van Hanegem aufgenommen, der einfach nur gesagt hat: Das ist Werbung für mich. Wann treffen wir uns? - Vom Atelierbesuch bei ihm komme ich gerade, mit der scheuen Künstlerin bin ich verabredet am Samstag, um sie dazu zu überreden, dass sie sich von mir im Blog vorstellen lässt. Aber wie soll das nun gehen? Am besten gar nicht, denke ich mir. Lassen wir es. Ich bedränge niemanden. Ich schreibe über die Leute, die es wollen oder keine Schwierigkeit darin sehen wie sie. Und wenn es niemanden mehr geben sollte, der sich von mir beschreiben lassen will, dann gehe ich woanders hin. – Sie erzählt darauf von Elke Naters. Gewissermaßen als abschreckendem Beispiel. – Du kennst Elke Naters?! Von der habe ich alles gelesen, sage ich und nenne die Titel ihrer beiden ersten Romane: Königinnen und Lügen. – Die kennt die Frau auch, aber für sie sind die Romane vor allem ein Gegenstand der Beschwerde, weil Elke Naters darin lebende Personen und Schauplätze in Schöneberg beschrieben hat, vor allem lebende Personen. – Naja, worüber soll sie sonst schreiben? Sie hat hier gelebt. Und da sie ein Popliteratur-Konzept hat, hat sie über ihren Alltag geschrieben. Großartig. Verehrungswürdig. – Weil die Frau Elke Naters persönlich kennt und ich neugierig auf Klatsch über sie bin, überlege ich jetzt tatsächlich, ob ich nicht doch einen Kompromiss machen und mich mit der Frau am Samstag treffen soll, obwohl das Treffen im Blog nicht erwähnt werden darf oder wenn, dann nur auf diese verspannte anonymisierte Art, wie ich jetzt gerade schreibe. Was ich allerdings auch nur tue, weil das so abgefahren war, wie an der Ampel vor der Commerzbank diese schwarz verschleierte Gestalt stand. Wie eine Metapher zu unserem Gespräch stand sie da, und als es Grün wurde, hat sie die Straße überquert und ist ganz nah an uns vorbei gegangen. Ohne uns dabei mit ihrem Gewand zu streifen. Wir haben ihr hinterher geblickt und der Frau ist aufgefallen, dass die Gestalt lila Socken trägt. Und das war - Bitte um Verzeihung für den Kalauer - der endgültige Beweis dafür, dass es sich bei der Gestalt nicht um eine aus dem Mittelalter oder der Filmgeschichte entlaufene Verkörperung des Todes gehandelt hat. Denn der Tod trägt keine lila Socken.

Anmerkungen:
Die lila Socken haben mich auf die Idee gebracht, dass es sich bei der Gestalt auch um eine deutsche Feministin handeln könnte, die die Verhüllungspraxis muslimischer Frauen anprangern will. Was dann zwar immer noch eine dumpf-intolerante, also anti-aufklärerische Haltung wäre (anderen Menschen Vorschriften machen zu wollen, wie sie sich anzuziehen haben), aber inspiriert vorgetragen, mit surrealem Charme. 

Treffen am Samstag mit der Frau, die nicht beschrieben werden will? – Am Ende hat die Frau sich versöhnlich gezeigt und zugegeben, dass sie den Konflikt um das Beschriebenwerden ja/nein auch interessant findet. – So interessant, dass sie bereit ist, mit ihrem Namen im Blog aufzutreten? – Denn, siehe oben, noch mal mache ich so was nicht mit.

Wer in meinem Leben ist, der ist auch im Blog. Wer nicht im Blog sein will, der soll mir aus dem Weg gehen. Es gibt nur eine Person, für die ich - wegen Besonderheit der Vorgeschichte - eine Ausnahme machen würde von dieser Regel. Sie weiß schon.