Freitag, 5. August 2011

Handgeben

Ferien. – Definiere Ferien! – Ein grauer Tag am Meer. Blick auf die Brandung. Blick auf die Wolken. Blick auf die präzise ausgeführten Schaumkronen der Wellen im Vordergrund. Grau und Weiß. Bei so wenigen Wolken müsste doch die Sonne scheinen. Öl auf Leinwand. Das Gemälde steht im Schaufenster der Galerie Gondwana in der Merseburger Straße 14. - Kann das sein, dass das die zeitgenössische Kunst ist? lege ich mir als Frage zurecht, um sie Mini Kapur zu stellen, wenn sie gleich kommt zu unserer Verabredung, 10.30 Uhr in ihrer Galerie Under The Mango Tree, direkt neben der Galerie Gondwana. Am Montag hatte ich sie angerufen und sie um ein weiteres Treffen gebeten, um ihr noch ein paar Fragen zu stellen für den Text, den ich über sie und die Textilkunst schreiben will, die sie im vorderen Raum ihrer Galerie anbietet: Shawls, Tücher aus Seide, Cotton, Pashmina (Kaschmir) mit Mustern und Stickereien, zum Teil von ihr selbst entworfen.

Wie gefällt Ihnen das Bild, Frau Kapur? – Es ist ein sehr schöner Eyecatcher. – Stimmt. Aber ist das nicht sehr wenig, ein Foto zu machen und das dann nachzumalen mit großer handwerklicher Fertigkeit? – Naja, ob das Kunst ist, darüber kann man diskutieren.  – Nein, nein das will ich gar nicht in Frage stellen. Aber was ist das für eine Kunst? Was passiert da? Wir kriegen einen Blick vorgeführt, der im 19. Jahrhundert einmal neu war, jetzt aber nur noch ein Zitat ist und mehr will das Bild auch nicht sein. - Frau Kapur sieht das nicht so eng und streng: Ja, es ist schon ein bisschen nostalgisch, sagt sie, während sie die Tür zu ihrer Galerie aufschließt. 

Frau Kapur und ich haben uns bei der Begrüßung nicht die Hand gegeben. Bei unseren vorhergehenden Treffen hatte ich bei ihr ein Widerstreben gegen das Handgeben bemerkt. Als ich das ansprach und ihr sagte, dass wir das Handgeben meinetwegen gerne lassen können, hat sie das dankbar angenommen und gesagt, ich möchte nicht jedem die Hand geben. – Oh! Mir möchte sie also nicht die Hand gegeben, habe ich gedacht, aber nicht lange überlegt, warum, und bin nicht gekränkt gewesen. Nicht einmal befremdet war ich. Befremdet von Frau Kapurs Verhalten war ich bei unserer ersten Begegnung. Doch bei den nächsten beiden Treffen habe ich sie immer besser verstanden, auch immer mehr schätzen gelernt in ihrer Eigenwilligkeit, mit der ich umgehen kann, weil ich selbst eigenwillig bin. Trotzdem wollte ich die Abneigung gegen das Handgeben heute noch mal ansprechen. Mit anderen kritischen Fragen, von denen ich ahnte, dass sie Frau Kapur unangenehm sein würden. So war es dann auch. Sie hat sich geärgert über meine Fragen. Sie ist heftig geworden. Es ist zu einem Wortwechsel zwischen uns gekommen, mit einer solchen Aggressivität und Schärfe, dass viele Leute, die ich kenne, sagen würden, wir hätten uns angebrüllt. Tatsächlich haben wir uns nicht angebrüllt, wir haben uns nur beide vom anderen nichts gefallen lassen, haben uns 10 Minuten lang gestritten, dass die Fetzen flogen, wie viele Leute, die ich kenne, sagen würden, und danach war es gut. Wir haben ganz ruhig – und entspannter als vorher – weiter geredet. Und sie hatte damit die höchste Achtungsstufe erreicht, die jemand bei mir erreichen kann.   

Am Ende unseres Gesprächs kam eine junge Frau mit einem kleinen Kind in die Galerie, zusammen mit einem Mann, von dem ich erst glaubte, er sei der Mann der jungen Frau und der Vater des kleinen Kindes. Als wir uns die Hand gaben und begrüßten, erwies es sich, dass er Herr Kapur war und die Frau eine Freundin der Kapurs aus Hamburg. Herr Kapur sagte, er habe in meinem Blog gelesen. – Ich: Mein Blog ist eigenwillig. – Das ist doch gut. Nur so ist es interessant, meinte er und fragte dann, ob seine Frau mir schon die beiden Wörter erklärt habe, die im vorderen Raum an die Wand geschrieben sind. ZARA HATKE, steht da in großen schwarzen Druckbuchstaben. Indisch für: To be a bit different. Ein bisschen anders sein. - Das sei das Motto des Ortes, den sie mit Under The Mango Tree schaffen wollten: It´s all about difference and ... - war es love, was er noch sagte? It´s all about difference and love.

Während Frau Kapur mit der jungen Frau aus Hamburg sprach und eine zweite Frau und weitere Kinder dazu kamen, fragte ich Herrn Kapur, wie alt er ist, und erklärte ihm auch gleich, warum. Aus Höflichkeit hatte ich seine Frau nicht nach ihrem Alter gefragt und erhoffe mir nun, von seinem Alter ungefähr auf ihr Alter schließen zu können. – Für wie alt schätzen sie mich denn?  - Ich schaute ihn an, überlegte und sagte: 54?  - Er ballte seine rechte Hand zur Faust, boxte mit ihr ausgelassen in die Luft und lachte: Gestern habe ich Geburtstag gehabt und bin 54 geworden. - Hey! – Wir sprachen dann noch über seinen Beruf. 14 Jahre hat er als Informatiker gearbeitet bei einem großen deutschen Unternehmen, jetzt gehört er dort einer Abteilung an, die sich mit Zukunftsforschung beschäftigt. - Darüber sollten wir uns einmal länger unterhalten. Ein andermal. Jetzt erst Mini Kapur und ihre indische Textilkunst.

Beim Abschied gaben Herr Kapur und ich uns die Hand, während Frau Kapur und ich wieder darauf verzichteten, uns zu berühren. - Ich als Frau kann entscheiden, wem ich die Hand gebe und wem nicht, hatte sie gesagt, als es vorübergehend heftig geworden war zwischen uns. – Kann sie. Macht sie. Eigenwillig. Selbstbewusst. Jemand, mit dem man sich streiten kann und sich anschließend gleich wieder vertragen. Guter Vormittag. Ferien.  

Martin Jagodzinski:
Seestück (Licht)   Öl auf Leinwand   100 x 140 cm   2005

Merseburger Straße 14
10823 Berlin
Tel: 030 754 555 02
info@galerie-gondwana.de

Bild: © Martin Jagodzinski
Berichtigung: Der Mann von Frau Kapur heißt nicht Kapur, sondern Dr. Thakar. Siehe dazu Blütenblatt