Samstag, 20. August 2011

Sommer

Sie hat ein Gesicht, das ich stundenlang anschauen könnte, ohne mich zu langweilen, und ebenso lange könnte ich ihr zuhören. Zuerst hatte ich sie gar nicht erkannt, als ich aus dem Wasser kam und zu meinem auf der Terrasse abgelegten Handtuch ging. Sie saß auf der obersten Terrassenstufe, braungebrannte zierliche Frau mit dichtem dunklen Haar; hat mit kleinen Schlucken Tee getrunken aus dem Becher ihrer Thermosflasche und zu mir hergeguckt, so dass ich fragte: Kennen wir uns? – Sie: Wir hatten einmal … . Das reichte schon, um sie zu erkennen an ihrer Stimme: Adriana! Ich sehe so schlecht. Es ist nicht zu fassen. – Ich hatte sie auch deshalb nicht erkannt, weil ich nicht damit gerechnet hatte, ihr hier zu begegnen: Freibad Forckenbeckstraße. Seit Wochen das erste Mal sommerliches Wetter. Donnerstag war das. Du hast es schon hinter dir, meinte sie. Das Schwimmen hinter mir. Nichts dazu gesagt, ihr zugehört. Es genossen, auf der warmen Steinplatte zu sitzen, meine Haut von der Sonne trocknen zu lassen und ihr zuzusehen, wie sie den heißen Tee trinkt aus dem mit beiden Händen umfassten Becher und dabei spricht über Schwimmbadthemen erst und dann erzählt von der Lesereise mit ihrem Buch, an Orte, wo man sonst nie im Leben hinkommt: Troisdorf zum Beispiel. Sie redet und ich streue Bemerkungen und Fragen ein, bis unser Dialog sein Thema findet, nachdem ich ihr die richtige Frage gestellt habe. Die richtige Frage lautet: Ist dein Sohn immer noch so ein interessanter Charakter? – Das hast du gut ausgedrückt, sagt sie und legt los mit der Beschreibung seiner Unerträglichkeit. Von allen Eigenschaften des pubertierenden 15jährigen für sie am schlimmsten: seine Arroganz. – Will er nichts mehr von dir wissen? – Wenn er so weiter macht, will ich nichts mehr von ihm wissen. Wenn sie könnte, würde sie ihn hassen. Geht nicht. Wegen Mutterliebe. Und stolz auf ihn muss sie zu alledem auch noch sein. Nächstes Jahr macht er Abitur. – Was? Hat er Klassen übersprungen? – Ja, aber er ist dem überhaupt nicht gewachsen. Weil er noch nicht die Sekundärtugenden hat, wie Fleiß und Disziplin, die man erst kriegt ab 17. Heißt: In Fächern, die ihn interessieren, wie Deutsch, Geschichte etc., hat er Einsen, weil da muss er nichts für machen. Und in den naturwissenschaftlichen Fächern, wo er was tun müsste, da ist er schlecht. - Wusste ich nicht, dass Hochbegabte schulisch schlecht sein können wie alle anderen auch. Aber jetzt, da sie es sagt. Und dazu die Vorstellung, dass der 15jährige mit deutlich älteren Mitschülern, jungen Männern schon, in eine Klasse geht und umgekehrt: die mit jemandem, der in ihren Augen noch ein kleiner Junge ist, der aber dann zum Beispiel bessere Aufsätze schreibt als sie. Vor ein paar Jahren hat er – vom Schulhof weg gecastet – in dem ARD-Zweiteiler Nicht alle waren Mörder mitgespielt. Nachdem der Film mit großem Erfolg gelaufen war, hat er vom damaligen ARD-Programmdirektor Struve einen Brief bekommen, den wahrscheinlich dessen Sekretärin geschrieben hatte. In dem Brief hat der Programmchef ihn mit Sie angeredet und ihm gratuliert zu seiner schauspielerischen Leistung in der Produktion Alle waren Mörder. – Er  hat darauf in seiner Kinderhandschrift zurückgeschrieben, dass Herr Struve ihn gerne mit Du anreden könne, weil er erst elf sei, und außerdem könne er ihn beruhigen: Nicht alle waren Mörder. – Inzwischen hat Adriana den Becher auf ihre Thermosflasche geschraubt und ihr Sweatshirt ausgezogen. Sie trägt einen Badeanzug in dem neuen leuchtenden Rot, das mir zum ersten Mal in den 80er Jahren in einer Coca Cola-Werbung aufgefallen ist. – Schöner Badeanzug. Gutes Rot, sage ich. – Den habe ich mir gekauft, damit wenigstens ich mich sehe, antwortet sie, zieht ihre Badekappe auf und fragt: Und du? – Ich? Ach, über mich reden wir beim nächsten Mal, wenn wir uns wieder hier treffen, antworte ich und freue mich jetzt schon darauf, wieder neben ihr zu sitzen, sie von der Seite zu betrachten, wie sie in kleinen Schlucken Tee trinkt und ihr zuzuhören. Mir wird schon wieder die richtige Frage einfallen, damit ich nicht über mich reden muss. Denn das war das Schöne an dem Morgen: Mit ihr auf den warmen Steinplatten in der Sonne zu sitzen und keine Sekunde an mich zu denken.