Dienstag, 9. August 2011

Unwiderstehlich

Frage an den Kartenabreißer: Hat der Hauptfilm schon angefangen? – Nein. – Odeon. 18.14 Uhr. Vier Leute vor mir an der Kasse. Hinter der Kasse die mir vertraute Frau, die so hässlich ist, dass ich erschrocken bin, als ich sie vor vielen Jahren zum ersten Mal gesehen habe. Am Tag der Trauerfeier für Princess Diana hatte sie ein kleines Bild von ihr mit einer Kerze daneben an der Kasse aufgestellt, und weil an dem Tag Mutter Theresa gestorben war, daneben noch ein Bildchen von Mutter Theresa, auch mit einer Kerze. Jetzt hat sie gerade eine Diskussion mit den Leuten, die zu dritt gekommen sind. Was haben die zu diskutieren? Wohl kaum über den Eintrittspreis. Montag Kinotag: 5 Euro 50. Vor mir eine Frau Mitte, Ende 40, mit kurzen gelockten blonden Haaren und markanten symmetrischen Gesichtszügen. Knielanger beiger Trenchcoat. Jeans. Sling-Sandaletten. Jetzt ist sie dran. Sie fragt, ob eine Karte für sie hinterlegt worden ist. – Nein, sagt die hässliche Frau und ich denke, dass sie das nur fragte, weil sie bemerkt hat, wie ich sie beobachtet habe. Aus Langeweile während des Wartens. Das kann sie nicht wissen. Sie will verhindern, dass ich ihr folge und mich neben sie setze. Es überrascht sie nicht, dass keine Karte für sie hinterlegt wurde. Sie kauft sich eine und dazu eine kleine Flasche Beck´s. Leute, die im Kino Bier trinken sind mir immer fremd gewesen. Dass die Frau im Trenchcoat dazu gehört, überrascht mich. Ich denke an Charlotte Roche, von der ich gelesen habe, dass sie ein Alkoholproblem hatte. Das hat mich auch überrascht. Ich hatte gedacht, dass Charlotte Roche andere Mittel hat, wenn sie es sich geben will. Vielleicht ist das mit dem Alkohol aber auch nur eine dem Markt angepasste Überformung eines anderes Drogenthemas, jetzt von ihr preisgegeben, weil bald ihr zweites Buch erscheint: Schoßgebete. Die Frau im Trenchcoat hat mit einem 50-Euro-Schein bezahlt. Die Qualität ihres Mantels und ihrer Sandaletten lassen auf ein höheres Einkommen schließen. Nachdem ich von der hässlichen Frau meine Karte bekommen habe mit einem Lächeln, mit dem sie mein Lächeln erwiderte, folge ich der Frau im Trenchcoat, so wie sie sich das vorgestellt hat. Hoffentlich setzt sie sich nicht in eine der vorderen Reihen. Denn da will ich hin. Sie entscheidet sich für eine Reihe in der Mitte. Keine zwei Minuten, nachdem ich mich hingesetzt habe, schließt sich der Vorhang, Ende Vorprogramm, und öffnet sich gleich wieder, Beginn Hauptfilm. Die Frau und ich wir haben das gleiche gute Timing.

Megan! Megan! Megan! Ein kleines Mädchen ruft nach seinem Hund. Früher Morgen. Sein Vater wacht auf und hilft ihm bei der Suche. Das Mädchen ist Frankie. Der liebevolle Vater ist Dean. Die Tür des Gatters um die Hundehütte steht offen. Der Vater beruhigt das Kind. Der Hund wird schon wieder zurückkommen. Jeder im Kino weiß, dass das Mädchen seinen Hund nicht wiedersehen wird. Dean und Frankie wecken die Mutter. Die Mutter ist Cindy. Sie hat kein Verständnis für die Faxen, die Dean mit Frankie beim Frühstück macht. Später wird sie den toten Hund am Straßenrand finden. Sie wird weinen, wenn sie Dean davon erzählt. Sie hat die Tür zum Gatter um die Hundehütte zu schließen vergessen, hält Dean ihr vor. Die Eltern verschweigen Frankie, dass ihr Hund tot ist. Sie bringen sie zum Vater Cindys. Danach sitzt Dean am Tisch und schluchzt. Cindy tröstet ihn, indem sie ihm zärtlich den Nacken knetet. Es ist der Vorabend des 4. Juli, des amerikanischen Nationalfeiertags.

Blue Valentine erzählt vom Entstehen und Vergehen einer Liebe. Dean und Cindy werden in einem Sex Motel übernachten, im Future Room. Dazu hat Dean Cindy überredet, er will ihrer Ehe damit einen neuen Kick geben. Jeder im Kino weiß, dass das schief gehen wird. Und auch deshalb ist es so quälend und uninteressant, es mit anzusehen, wie sie sich in dem albernen Future Room betrinken, wie sie ihm vorwirft, dass er nichts aus seinem Potenzial macht (beruflich) und wie er versucht, Sex mit ihr zu haben, aber nicht so wie sie will, es einfach nur geschehen lassen, sondern so, dass es Liebemachen ist. Das kann sie nicht, weil es keine Liebe mehr gibt, weil es nicht reicht, dass er es so gut meint. Das muss nur noch ausgesprochen werden. Dann ist es vorbei. Bis es soweit ist, sehen wir in Rückblenden, wie die Liebe zwischen Cindy und Dean begonnen hat. Und da wir wissen, wie es ausgeht, erleben wir, wie falsch das ist, was die beiden machen, als sie sich verlieben und miteinander einlassen, obwohl es so schön ist für die beiden und auch sehr schön anzusehen. Das ist die Handlung des Films, dass er uns das vorführt, wie in der romantischen Begegnung der beiden schon alles angelegt ist, was sie später als Paar wird scheitern lassen. Aber auch das ist nicht sonderlich interessant, weil es nur zu klar ist, dass es nicht gut gehen kann zwischen dem Möbelpacker ohne Schulabschluss und der ehrgeizigen jungen Frau, die Medizin studieren und Ärztin werden will, und die ihn nur heiraten wird, weil er sie so wunderschön findet und weil er zu ihr steht, als sie schwanger ist von einem anderen Mann und es nicht fertigbringt, das Kind abzutreiben. Frankie, die ihren Vater so liebt, ist nämlich nicht die Tochter von Dean. Sie ist das Kind des Mannes, den Cindy verlassen hat, kurz bevor sie Dean begegnet.

Dean sagt am Anfang der Rückblenden, als er Cindy noch nicht kennt: Ich glaube, Männer sind romantischer als Frauen. Wenn wir heiraten, tun wir das, weil wir uns die ganze Zeit dagegen wehren, bis wir ein Mädchen treffen und denken: 'Ich wäre saublöd, wenn ich dieses Mädchen nicht heirate', weil sie so toll ist. Aber Frauen scheinen irgendwann an einen Punkt zu kommen, wo sie sich entscheiden: 'Oh, der hat 'nen guten Job.' Die verbringen ihr ganzes Leben damit, nach Prince Charming zu suchen, und heiraten dann den Typen, der einen guten Job hat und bei ihnen bleibt. Sätze aus einem gutgeschriebenen Drehbuch. – Cindy sagt, bevor sie Dean kennenlernt, auch so einen Drehbuchsatz. Nur einen: Wie soll man seinen Gefühlen trauen, wenn man weiß, dass sie so schnell vergehen können?

Cindy ist eigentlich die Frau für den Typ mit dem guten Job. Aber dann passiert ihr das Missgeschick mit der Schwangerschaft und dann das Missgeschick mit dem Prinz Charming.  Denn das ist Dean, der Möbelpacker. Der findet sie so toll, dass er denkt, ich wäre saublöd, wenn ich sie nicht heiraten würde. Das ist nicht so ohne weiteres zu verstehen, dass er sie so toll findet. Er sagt, sie sei eine wunderschöne Frau. Das ist sie nicht. Und er sagt, alle schönen Frauen seien verrückt. Das ist sie auch nicht. Er sagt, schöne Frauen seien verrückt, weil sie von allen Leuten so zuvorkommend behandelt würden. Wenn sie zum Beispiel einen Witz erzählten, dann könne er noch so schlecht sein, trotzdem würde jeder lachen. Cindy erzählt darauf einen Witz (*) und der ist so, dass Dean sie nur entsetzt anschaut und im Kino lachen – nach dem ersten Schreck – außer mir nur noch drei, vier andere Hartgesottene. Besser geht es, als er ihr, begleitet von seiner lächerlichen kleinen Gitarre, ein Liebeslied vorsingt und sie dazu tanzt. Auch als sie zum ersten Mal Sex haben geht es gut. Und als sie zum zweiten Mal Sex haben, da ist es schon Liebemachen (**). Das ist, nachdem sie ihn ihren Eltern vorgestellt hat. Danach heiraten sie und sind ein glückliches Paar. Wenn sie kein glückliches Paar mehr sind, dann ist sie statt Ärztin Sprechstundenhilfe geworden. Sie haben die Tochter des anderen Mannes aufgezogen, bis sie alt genug ist, um im Chor der Vorschule die amerikanische Nationalhymne zu singen. Sie haben ihr einen großen Hund geschenkt und Dean hat für den Hund eine Hütte gebaut mit einem Gatter drum herum und einer Tür, die nicht von alleine schließt. Er streicht mittlerweile Häuser an und trinkt morgens schon Bier. Er hat ein Alkoholproblem. Er ist immer noch charming und witzig. Aber Cindy kann nicht mehr über ihn lachen. Ein Kind reicht ihr. Sie will nicht noch einen Kindmann haben. Sie holen die Tochter ab bei Cindys Vater. In dessen Haus kommt es zu einem letzten Streit. Sie weinen, schreien und sagen all das, was Paare sagen, wenn es vorbei ist. Als er es kapiert hat, geht Dean weg. Frankie läuft ihm hinterher, hängt sich an ihn. Er nimmt sie in seine Arme und dann schickt er sie zurück zu ihrer Mutter. Er geht in die Abenddämmerung. Abend des 4. Juli. Nationalfeiertag. Die Menschen sind auf der Straße und schießen Feuerwerksraketen ab. Etwas, das unwiderstehlich war als Idee und als Erlebnis ist gescheitert. Es wird unwiderstehlich bleiben. Aber es ist nicht mehr zu retten. Abspann.

Im Vorraum sehe ich die Frau mit den Sling-Sandaletten wieder, zuerst die Füße in den Sandaletten, dann erst bemerke ich, dass sie es ist, die Frau mit dem Trenchcoat und dem Beck´s Bier. Auf dem Weg zur Toilette. Sie ist auch bis zum Ende des Abspanns sitzen geblieben. Ich schaue mich um. Niemand im Vorraum des Kinos sieht so aus, als würde er zu ihr gehören und auf sie warten. Wie ich es mir gedacht habe: Sie hat nur nach der zurückgelegten Karte gefragt, um mich auf Distanz zu halten. Trickreich. So wird sie nie erfahren, dass ich gar nichts von ihr wollte. 

(*) Ein Kinderschänder geht mit einem kleinen Jungen in einen dunklen Wald. Der Junge sagt, ich fürchte mich. Darauf der Kinderschänder: Was meinst du, wie ich mich erst fürchten werde, wenn ich nachher den ganzen Weg alleine zurück gehen muss.
(**) Die Sexszenen in Blue Valentine: der mechanische Sex mit dem Ex-Freund, bei dem Frankie gezeugt wird, der gute Sex mit Dean, als sie sich verlieben, und der Sex, als es vorbei ist, das ist so, wie ich mir immer gedacht habe, dass Sexszenen sein sollten in einem Kinofilm: dass mit der sexuellen Handlung die Geschichte weiter erzählt wird. Dialog ohne Worte. 

Blue Valentine, USA 2010. Regie: Derek Cianfrance; Buch: Cami Delavigne, Derek Cianfrance, Joey Curtis; Produktion: Jamie Patricof, Lynette Howell, Alex Orlovsky; Darsteller: Ryan Gosling, Michelle Williams, Faith Wladyka, Mike Vogel; 112 Min.

Trailer Blue Valentine 
Fotos: © Senator Film Verleih