Freitag, 21. Oktober 2011

8. Stock

Was macht eigentlich Oguzhan? – Arbeitet wieder regelmäßig im Tabakwarenladen in der Akazienstraße 2. Als ich vorgestern reingeschaut habe, um Hallo zu sagen, hat er sich gerade auf seinem iPhone die Hörbuchfassung von American Psycho angehört; das Buch hat er auch gelesen, die Verfilmung schon dreizehnmal gesehen. Der Film ist besser als das Buch, sagt er. Kann ich mir nicht vorstellen, aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich mich mit Oguzhan über Bret Easton Ellis unterhalten kann. Er sagt Lunar Park. Ich sage Glamorama (Models und internationaler Terrorismus) und dann sage ich noch Imperial Bedrooms. – Worum geht es da? fragt er. – Worum es bei Bret Easton Ellis immer geht. Coolness, Hip-Sein und Sex. Nur, dass das jetzt alles nicht mehr losgeht. Coolness ist fade, Hip-Sein langweilig und Sex tut nur noch weh. Als ich Sex tut nur noch weh sage, nickt er so verständnisvoll, als würde er täglich nichts anderes erleben. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. – Vorhin kommt er aus dem Laden und wir gehen ein Stück zusammen. – Wo willst du hin? – Ein Freund von mir ist aus dem 8. Stock gefallen. Steht heute in der BZ. Ich glaube, der wollte sich umbringen. – Ach. – Aber dem war vorher nichts anzumerken. – Das ist meistens so, sage ich und vermassle den Mittelteil unseres Gesprächs mit einem Kurzreferat über Einsamkeit, die darin besteht, dass die anderen gar nicht wissen wollen, was mit einem wirklich los ist, und weil einem das klar ist, lässt man es lieber, sie es merken zu lassen. – Da hast du recht, sagt Oguzhan und ich will gerade mein Referat beenden mit dem Schlusssatz: Und das ist dann die Einsamkeit, aus der der Selbstmord kommt – da fällt Oguzhan ein, dass er auch von der Leber-Brücke aus nach Gesundbrunnen fahren kann (um den Freund in der Klinik zu besuchen, nehme ich an), statt am U-Bahnhof Eisenacherstraße einzusteigen und noch ein Stück mit mir zu gehen, mit dem Risiko, sich weitere Belehrungen anhören zu müssen. Doch vielleicht hatte er das auch von Anfang an vor, zur Leber-Brücke zu gehen, und hat einen Umweg gemacht, um mich ein Stück zu begleiten. Jedenfalls hat er es jetzt eilig. Im Weggehen dreht er sich noch einmal um und ruft mir ausgelassen zu: Am Samstag nächster Woche habe ich Geburtstag. Denk dir was aus! Ich lache. Hat er das jetzt etwa ernst gemeint, dass ich mir was ausdenken soll? 22 wird er. Sein Freund dürfte im gleichen Alter sein. Wie hat er den Sturz überlebt? Kann man sich auch bei einem Sprung aus dem 8. Stock dumm anstellen? Wie kommt Oguzhan überhaupt darauf, dass sein Freund gesprungen und nicht gefallen ist? Wenn es zweifelsfrei ein Selbstmordversuch gewesen wäre, dann hätte die BZ  nicht darüber berichtet, denn es gibt einen Schweigekodex der Presse bei Selbstmorden - wegen des Nachahmungseffekts, bei dem man sich zwar nicht vorstellen kann, dass Leute so dämlich sind, aber es ist statistisch belegt. Worauf will ich hinaus? – Alles andere, worüber ich mit Oguzhan hätte reden können, wäre interessanter gewesen als mein Referat über Einsamkeit. Und für seinen Geburtstag denke ich mir was aus.