Freitag, 7. Oktober 2011

Museum

Tomas Tranströmer. Der diesjährige Nobelpreisgewinner für Literatur ist ein Lyriker, der im Jahr im Durchschnitt nicht mehr als zwei Gedichte verfasst; längere Gedichte, ist anzunehmen. Sein Gesamtwerk umfasst rund 400 Seiten. Wenn seine Gedichte nur so lang wären, dass ein Gedicht auf eine Seite passt, dann könnte man rechnen 400 durch zwei und käme zu dem Ergebnis, dass der Autor mehr als zweihundert Jahre alt ist, denn in seinen ersten Lebensjahren wird er keine zwei Gedichte pro Jahr geschrieben haben. Tatsächlich ist der Autor aber erst 70 Jahre alt. 1990 Jahren hat er einen Schlaganfall gehabt und dabei seine Sprechfähigkeit verloren. Wenn ich es richtig mitgekriegt habe beim Überfliegen eines Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung, kann er inzwischen wieder sprechen, aber nicht so gut, und deshalb trägt seine Frau Monica seine Gedichte vor, wenn ein Jahr vorbei ist und es wieder zwei neue Gedichte von ihm gibt. Er sitzt im Rollstuhl daneben (er ist halbseitig gelähmt seit dem Schlaganfall) und dann kann man schon mal den Anflug eines zaghaften Lächelns beobachten, Ausdruck eines vorüberstreifenden Glücks und das ist dann traurig und schön. Oder er ist lieber zu Hause geblieben, um auf dem Klavier herumzuklimpern. So war das nämlich in der ersten Zeit nach dem Schlaganfall, dass er zwar nicht telefonieren konnte, aber Klavier spielen. Und wenn man dann bei ihm zu Hause anrief und mit Monica sprach, hörte man ihn im Hintergrund am Klavier: der hallende, Glockenspiel-artige Tonsatz für die linke Hand aus einer alten Hymne, ein halber Choral, der doch ein ganzer blieb, und da ist dem Anrufer eine Stelle aus einem Text von Tranströmer eingefallen: So, wie wenn im Treppenhaus das Licht ausgeht und die Hand – vertrauensvoll – dem blinden Geländer folgt, das durchs Dunkel führt.

Der Anflug eines zaghaften Lächelns, Ausdruck eines vorüberstreifenden Glücks, konnte bei Tranströmer beobachtet werden, als Monica das Gedicht Zwei Städte vorlas, an der Stelle:
Ich schwimme in Trance hinaus
auf die glitzernden dunklen Wasser.
Ein dumpfer Tubastoss dringt herein.
Es ist die Stimme eines Freundes:
Nimm dein Grab und geh.


In The New Yorker finde ich noch diesen Text von Tomas Tranströmer:
We got ready and showed our home. The visitor thought: you live well. The slum must be inside you.

Ich wollte mich lustig machen über die Nobelpreis-Entscheidung, aber es hat nicht geklappt. Die zitierten Texte sind Übersetzungen aus dem Schwedischen. Der Anflug eines zaghaften Lächeln bei Tranströmer, das war während der Verleihung des Lyrikpreises der Bayerischen Akademie 1992