Donnerstag, 1. Dezember 2011

Blut

Wie ich drauf kam, weiß ich nicht mehr. Kleists Grab am Kleinen Wannsee, wo er erst Henriette Vogel und dann sich erschossen hat. Als sie gefunden wurden, er kniend vor der am Boden liegenden Frau, mit der er in keinem Liebesverhältnis gestanden hatte. Sie unheilbar krank, er mit der Begründung gestorben, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war. Kleists Grab. Da bin ich nie gewesen. Da könnte ich mal hin, das fotografieren und dann stelle ich das Foto in den Blog zusammen mit der Textstelle aus Prinz Friedrich von Homburg, die sicher pathetisch, abgehoben ist, aber auch so schön preußisch bodennah. Erkläre ich das dann mit den zwölf Kugeln, dass das die zwölf Kugeln eines Erschießungskommandos sind, bestehend aus 12 Mann? 6.45 Uhr. Fußgängerampel an der Stadtautobahnausfahrt zum Sachsendamm. Da weiß ich schon, dass ich das natürlich nicht machen werde: das Foto und es posten und die Liebeserklärung der Prinzessin Natalie dazu stellen. Alleine schon die Idee: mein Beitrag zum Kleist-Jahr. Bloß nicht! Und wenn, dann ohne Foto, und dann auch nicht Und bohrten gleich zwölf Kugeln dich jetzt in Staub … (*) , wenn, dann die Anekdote mit den zwei Boxern, der eine aus Portsmouth, der andere aus Plymouth (**) – Baxer schreibt er, nicht Boxer. Habe ich mal auswendig gelernt, nicht, weil ich musste, weil ich es wollte, aber längst wieder vergessen. 

Und? Haben wir es gestern nicht noch gesagt? – Das ist der freundliche Kassierer des Hallenbads. Gut gelaunt. Strahlend. Doch bestimmt nicht, weil die Notenbanken seit gestern den Finanzmarkt mit Dollars fluten. Aber darauf spielt er an mit seiner ironisch gemeinten Frage und ganz unironisch sind wir uns beide einig,  dass das den Crash allenfalls hinauszögert, aber es verhindert ihn nicht. Ich merke, er will Blut sehen. Wie ich. Und jetzt weiß ich auch wieder, wie ich auf das Grab von Kleist gekommen bin. Auf dem Weg zum Hallenbad habe ich mir heute Morgen überlegt, dass ich mich alleine schon deshalb nicht umbringen werde, weil es zwei Leute gibt, die ich überleben möchte, ich könnte auch sagen: verrecken sehen will. –  Personen aus dem öffentlichen Leben? – Nein, aus meinem Leben. – Frauen?  –  Beide Männer. –  Rache? –  Genugtuung. Ohne sadistische Phantasie, nichts von wegen: ich wünsche dir einen langsamem qualvollen Tod. So bin ich nicht. Ich will nur, dass die sterben, während ich noch lebe. Und deshalb kann ich mich jetzt nicht umbringen und während ich durch die Dominicusstraße gehe Richtung Sachsendamm, spiele ich mit dem Kalauer rum: Alles, was mich noch im Leben hält, ist das Frühstück und sind die zwei Leute, die ich sterben sehen will, bevor ich selbst sterbe. Von da komme ich auf Heinrich von Kleist, den nichts gehalten hat, dann auf sein Grab und was daraus wird, ist meine typische frühmorgendliche Gedankenflucht auf dem Weg zum Hallenbad, die jedes Mal damit endet, dass ich dem freundlichen Kassierer gegenübertrete, ihm 2 Euro 50 für den Eintritt gebe und er hält mir dann den Kassenbon hin, von dem er genau weiß, dass ich ihn nicht haben will. Noch nie hat es eine dieser Gedankenfluchten in den Blog geschafft, obwohl ich jedes Mal überzeugt davon bin, dass ich das später posten werde, was ich da auf dem Weg zum Hallenbad ausbrüte, aber es ebenso gut lassen könnte, denn spätestens in der Umkleide kann ich nur den Kopf schütteln darüber, und wenn ich ins Wasser gehe, habe ich es meistens schon vergessen. Nur heute nicht und deshalb gibt es zweimal Heinrich von Kleist: 

(*)
Natalie.
... Und bohrten gleich zwölf Kugeln
Dich jetzt in Staub, nicht halten könnt ich mich,
Und jauchzt und weint und spräche: du gefällst mir!

Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg

(**)
Zwei berühmte englische Baxer, der eine aus Portsmouth gebürtig, der andere aus Plymouth, die seit vielen Jahren von einander gehört hatten, ohne sich zu sehen, beschlossen, da sie in London zusammentrafen, zur Entscheidung der Frage, wem von ihnen der Siegerruhm gebühre, einen öffentlichen Wettkampf zu halten. Demnach stellten sich beide, im Angesicht des Volks, mit geballten Fäusten, im Garten einer Kneipe, gegeneinander; und als der Plymouther den Portsmouther, in wenig Augenblicken, dergestalt auf die Brust traf, daß er Blut spie, rief dieser, indem er sich den Mund abwischte: brav! – Als aber bald darauf, da sie sich wieder gestellt hatten, der Portsmouther den Plymouther, mit der Faust der geballten Rechten, dergestalt auf den Leib traf, daß dieser, indem er die Augen verkehrte, umfiel, rief der letztere: das ist auch  nicht übel –! Worauf das Volk, das im Kreise herumstand, laut aufjauchzte, und, während der Plymouther, der an den Gedärmen verletzt worden war, tot weggetragen ward, dem Portsmouther den Siegsruhm zuerkannte. – Der Portsmouther soll aber auch Tags darauf am Blutsturz gestorben sein.