Donnerstag, 12. April 2012

Kraftwerk

Dass ich vom Geldmangel schon träume, und das zweimal in einer Nacht, wundert mich nicht, auch dass dabei ein vor 15 Jahren gestorbener Freund auftritt, empfinde ich zuerst als ganz normal, weil er ist seit seinem Tod schon einige Male vorgekommen in meinen Träumen, aber nun bin ich schon den ganzen Tag am Grübeln, worauf mein Unbewusstes hinaus will, dass es ihn beim ersten der zwei Geldmangelträume hat auftreten lassen. Was sieht mein Unbewusstes in ihm? Einfach nur den Toten? Und indem ich ihm begegne, sehe ich meinen Tod, die Möglichkeit meines Todes? – Oder sieht mein Unbewusstes in ihm denjenigen, der sich zugrunde gerichtet hat, indem er der Welt einen Erfolgsmenschen vorgespielt hat, der er nicht sein konnte mit seinem Geschäft in seiner Zeit und mit seiner Persönlichkeit. Hätte er das eingesehen, wäre er geheilt gewesen. So aber stand er in einer Bar neben mir mit einem Whiskyglas in der Hand, hat so viel Alkohol vertragen wie sonst niemand, hat erzählt, dass seine Familie einen monatlichen Geldaufwand von 30.000 Mark hat, hat das erzählt, um anzugeben vor mir, und mit 45 Jahren war er tot. Darmkrebs. Metastasiert in die Leber. Und im Traum geht es um Konzerte, zu denen wir gehen wollen, und ich muss mit ihm reden, um ihm zu sagen, dass ich nicht das Geld für die Karten habe. Aber, erkläre ich ihm, das ist nicht schlimm, weil die Musik, die dort gespielt wird, bedeutet mir überhaupt nichts. Da sagt er zu meiner Überraschung, dass es ihm genauso geht, und danach sind wir beide erleichtert und haben ein Freundschaftsgefühl, wie ich es einige Male tatsächlich mit ihm erlebt habe, jedoch nicht oft. Mit diesem guten Gefühl verlassen wir den Raum, in dem wir miteinander gesprochen haben, und treten in einen Hof, wo wir von Leuten erwartet werden, die wir kennen, darunter H., ein gemeinsamer Freund und übrigens Arzt. Er kommt auf mich zu mit einen Stapel Konzertkarten. Alle für mich. Er hat sie für mich mitgekauft – und damit ist das ganze Einverständnis, das ich mit dem toten Freund erreicht hatte zuvor, und der Verzicht, auf den wir uns geeinigt haben, zunichte gemacht. Jetzt kann ich dem H. das natürlich alles erklären und die Entgegennahme der Karten verweigern, doch das ist langweilig. Deshalb wache ich auf und habe von dem Traum das Gefühl der Vergeblichkeit übrigbehalten, das ich hatte, als auf einmal der H. mit den Karten vor mir gestanden hat. 

Nach dem zweiten Traum mit Geldmangelthema und dem zweiten Aufwachen gehe ich zum Schwimmen, komme während dessen immer wieder auf die beiden Träume zurück, werde aus ihnen nicht schlau, könnte denken: so weit ist es jetzt schon gekommen, dass ich von meiner Geldknappheit träume, aber meine Erfahrung mit der Traumdeutung lehrt mich, dass was vorne auf der Bühne gespielt wird, nie das ist, worum es in einem Traum eigentlich geht. Manchmal hilft bei der Deutung, dem Gefühl zu folgen, das ein Traum zurücklässt. Nach dem zweiten Traum fühle ich mich stumpf und so grau, wie der Morgen es ist - bis zu dem Moment, als ich über die Kraftwerk-Konzerte im MoMA in New York  lese und danach via Perlentaucher mitkriege, dass es Videomaterial von dem Konzert auf YouTube  gibt. Ich wähle den Titel Man Machine. Das Videomaterial ist von erstaunlicher Qualität. Acht Konzerte geben Kraftwerk im Museum of Modern Art. Nur 450 Zuschauer pro Konzert sind zugelassen. Die Karten für die acht Konzerte waren innerhalb einer Stunde ausverkauft. Von der ersten Besetzung der Band ist nur noch ein Mann übrig: Ralf Hutter. Er könnte auch alleine auftreten. Aber ein Mann allein kann nicht Kraftwerk heißen. Die vier Figuren auf der Bühne, die Video-Projektion, der ganze Set, alles ist so 80er Jahre, so retro und jetzt ist es im Museum angekommen und sieht dort so gut aus, dass es keine Rolle mehr spielt, von wann es ist. Die Musik ist eine Erfindung der 70er Jahre. Jedes der acht Konzerte ist einem Album von Kraftwerk gewidmet. Das erste Konzert war dem Album Autobahn gewidmet. Die Person, von der die Videos vom ersten MoMA-Konzert von Kraftwerk sind, hat keine Aufnahme von dem Titelstück gemacht oder sie nicht hochgeladen. Die acht Konzerte sind eine Werk-Retrospektive, aber, wie gleich zu hören, Kraftwerk spielt seine Klassiker im Museum of Modern Art nicht einfach nach, sie spielen sie neu. Sie machen das, was Bob Dylan jeden Abend macht, wenn er auf Tour ist, nur dass bei ihnen die Stücke mühelos wiederzuerkennen sind. Die Musik, die Bilder, die Dramaturgie - alles ist gefällig, aber so pur, dass das Gefällige nicht stört. Ich empfinde, was ich immer wieder empfinde, wenn ich Kraftwerk höre: Ich bin beglückt. Das Glück dauert exakt 4.49 min. So lange wie Man Machine dauert. Danach fühle ich mich wieder stumpf und so grau wie der Morgen ist und der ganze Tag sein wird.