Mittwoch, 27. Juni 2012

Hendeles


Die Vitrine hat die Form eines Tropfens. Einer Träne, sagt der kommunikative Mann von der Galerie. Eine Träne ist ein Tropfen, sage ich und könnte doch auch einfach mal die Klappe halten. 


In der Vitrine zu sehen ist die vergrößerte Nachbildung eines aufziehbaren Spielzeugautos, made in the U.S. Zone, West-Germany, 1945-1952. Ein Exemplar des Originals ist im Besitz - in the collection of the artist, in der Sammlung der Künstlerin. Und so wie Ydessa Hendeles sich als Künstlerin bezeichnet, so bezeichnet sie die stark vergrößerte Nachbildung, die sie von dem Spielzeug hat anfertigen lassen, als Skulptur: sculpture based on a toy made in the US.Zone … .


Am meisten beeindruckt mich der Teil der Skulptur, der eine Nachbildung des Schlüssels ist, mit dem man das Original-Spielzeugauto aufziehen kann, allerdings nicht die Skulptur. Sie hat statt einer aufziehbaren Mechanik zwei Elektromotoren eingebaut, mittels derer sich an den Seiten Flügel ausfahren und an der Kühlerhaube ein Propeller drehen lassen. Das Auto ist nämlich ein Aero Car, ein Flugzeugauto.


Ähnlich gerne gesehen wie den Aufziehschlüssel habe ich die vergrößerte Nachbildung einer Fahrradklingel, die mich wie der überdimensionierte Schlüssel an Arbeiten von Jeff Koons erinnert. Was aber überhaupt nichts zu sagen hat.


Die längste Zeit habe ich in dem kleinen hinteren Raum verbracht, der ganz der Tragödie des Elefanten Jumbo gewidmet ist. – Jumbo? – Wenn wir Jumbo-Jet sagen, dann kommt das vom Namen dieses zu seiner Zeit als riesengroß empfundenen Zoo- und Zirkuselefanten afrikanischer Herkunft, der als erstes lebendes Tier zum Superstar aufstieg und bei einem Zusammenprall mit einer Güterzug-Lokomotive zu Tode kam. 1885 war das. Ein auf drei Plakate verteilter Text aus Harper´s Weekly vom 26. September 1885 ist viel zu lang, um ihn zu lesen beim Gang durch eine Ausstellung, aber dann lese ich die ersten Sätze von The Death of Jumbo und kann nicht mehr aufhören.


Ydessa Hendeles. 1948 in Marburg geboren, als Kind jüdischer Eltern, Shoa-Überlebender, 1951 ausgewandert nach Kanada. Sammlerin vermutlich schon als kleines Mädchen gewesen. International tätige Kuratorin. Als Ausstellungsmacherin eine Geschichtenerzählerin. Am wundersamsten ihre Adaption von Samuel Taylor Coleridge´s romantischem Gedicht The Rime of the Ancient Mariner und Gustave Dorés Illustrationen zu der Ballade vom Seemann, der einen Albatros tötet und damit sich und die Besatzung seines Schiffes ins Unheil stürzt. Der Albatros ist The Bird that Made the Breeze to Blow. Titelerzählung der Ausstellung bei Johann König. Die Formulierung von Ydessa Hendeles. Schreiben kann sie auch. In einem kleinen Buch, das jeder Besucher der Ausstellung als Geschenk mit nach Hause nehmen kann, erzählt sie von jedem Exponat, woher es kommt, was sie alles darüber weiß, welche Assoziationen sie mit dem Gegenstand verknüpft. Und wenn sich jemand fragt, was das alles soll, der Spielzeughund, der auf den Jumbo-Nachruf blickt, die Miniatur des Gynäkologenstuhls mit den Modellpuppen, die winzige Blecheisenbahn oder  Minnie Mouse mit dem Bild von Kater Felix auf ihren Koffern, auch der findet Antworten in dem zugleich sehr sachlichen und sehr persönlichen Text: This seems like a good place to note that while my artistic practice is informed by my life, I do not make or curate art to illustrate my ideas or my life. I am a storyteller staging parallel worlds for audiences. I think with objects and images to develop narratives. The same object will tell one story in one context but quite another when installed somewhere else. (…)


Ausstellung verlängert bis  zum 11. August 2012. Hingehen!



Galerie Johann König
Dessauer Straße 6-7
10963 Berlin
info@johannkoenig.de


Auf Wunsch von Ydessa Hendeles darf in der Ausstellung nicht fotografiert werden. 

Kunst: Ó Ydessa Hendeles
Fotos: Ó Galerie Johann König