Dienstag, 3. Juli 2012

Tochter



Auf die Frage, wie es ihm geht, behauptet Norbert, gut wie immer. – Ich: Das kann nicht sein, dass es einem immer gut geht. Wer das sagt, lügt entweder sich an oder die anderen. – Wieso?! entgegnet Norbert. Es gibt Leute, die sind immer optimistisch und lachen immer. – Ich: Gerade Optimisten kriegen häufig einen Dämpfer und haben dann nichts zu lachen. – Ach was! Norbert ist nicht abzubringen vom Ideal des Immergutdraufseins. Das ist es nämlich: Ideologie und ungesund. Leute, die immer gut drauf sind, sterben auch früher, behaupte ich nun und belege das mit den beiden Frauen Anfang 40, die zur gleichen Zeit eine Brustkrebsdiagnose bekommen haben und überlebt hat wer: die sonnige, stets strahlende Frau oder die schwermütige, manchmal umdüsterte? Für jeden im Freundeskreis war klar, wie es ausgehen würde. Aber dann ging es bald zu Ende mit der Sonnigen, die Schwermütige lebt immer noch und der befreundete Arzt, der die Sonnige schmerztherapeutisch begleitet hat beim Sterben, der sagte hinterher, als alle staunten, dass es die Sonnige getroffen hat und nicht die andere: Das hat man nicht so gern, wenn jemand so sonnig ist. Hat man nicht so gern als Arzt, meinte er. Weil es eben nicht wahr ist, Norbert, wenn jemand behauptet, immer gut drauf zu sein, und wenn es tatsächlich so sein sollte, dann leidet er an einer schweren Persönlichkeitsstörung: einem Unvermögen zuzulassen und sich einzugestehen, dass es ihm manchmal so mies geht wie allen anderen auch. – Es ist dann schon wieder gut, wie Norbert sich nicht abbringen lässt vom Immergutdraufseinwollen durch mein Gerede und nur meint, ich sei heute aber tiefgründig. – Das bin ich immer, ich verberge es sonst nur, antworte ich und Norbert empfiehlt mir, auf die andere Straßenseite zu Oleg zu gehen, mit dem er schon seit langem verfeindet ist und über den er jetzt sagt, der sei der richtige Partner für tiefgründige Gespräche. In dem Moment bemerke ich ein etwa 14jähriges Mädchen, das mit seiner Mutter und seinen Geschwistern von der anderen Straßenseite herüberkommt. So wie sich die kleine Gruppe bewegt, vermutlich Touristen und die 14jährige deshalb so auffallend, weil sie einen Anorak trägt, wie ein kurzes Kleid zu nackten Beinen trägt sie ihn, und der Anorak ist genauso gemustert wie die Jacke von Betty auf dem berühmten Bild von Gerhard Richter. Als die Gruppe an uns vorübergeht, sage ich zu Norbert, das Mädchen hat ein Gesicht wie von früher. Er fragt mich nicht, wie ich das meine, und ich sage, jetzt dem Mädchen hinterher blickend: Wenn ich eine Tochter hätte, dann hätte sie so ein Gesicht und sicher auch so dicke Beine. – Hast du keine Tochter? fragt Norbert. – Nein, keine Kinder. Er auch nicht, sagt Norbert. Und ich denke, dass es besser ist, dass ich keine Kinder habe, vor allem keine Tochter. Weil ich bis an mein Lebensende jeden mit meinem Hass verfolgen würde, der ihr wegen ihrer dicken Beine schlechte Gefühle macht.